'Winterzorn' von Livia Pipes
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Warum? Warum haben sie dir dieses Leid zugefügt? Warum haben sie jahrzehntelang deine Seele gequält? Hätten wir eine Chance gehabt, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten? Hätte ich dich retten können? Vielleicht nicht. Aber rächen kann ich dich.
An einem verschneiten Winterabend werden Kati Lindberg und ihre Kollegen zu dem Bungalow der Immobilienmaklerin Marie von Beesten gerufen. Sie ist nicht aufzufinden, doch in der Küche finden sie eine weiße Schachtel und der blutige Inhalt schockiert. In der Box befindet sich eine abgehackte Hand und darin liegt eine mysteriöse Schneekugel, die ihnen Rätsel aufgibt.
Ein Tag später steht fest: Die Hand gehört zu einer vermissten Frau, die seit dem Nikolaustag vor einem Jahr verschwunden ist. Es ist derselbe Tag an dem auch Marie von Beestens Ehemann Tibor bei einem Autounfall verbrannte … Die Ereignisse eskalieren, doch Marie von Beesten bleibt verschwunden. Kati muss sich wieder einmal ungeahnten Herausforderungen stellen, um sich dem skrupellosen Täter zu nähern. Doch die Zeit rennt ihr davon …
Ohne eine Atempause entführt Sie Livia Pipes‘ neuer Thriller in eine Welt, in der der Gedanke an Rache, alles andere in den Hintergrund rücken lässt.
Anleser:
»Tim? Ich bin mal kurz bei Frau Waldmann.«
Tim lag im Bett, spielte ein Spiel auf seinem Nintendo und war gerade dabei, einem Monster den Garaus zu machen. »Okay«, antwortete er gedehnt und nieste laut.
»Bin gleich zurück. Ich lasse die Tür offen.«
»Hm«, murmelte der Junge und spielte weiter.
Drei Minuten später klingelte es an der Haustür. Tim sah auf und stöhnte laut. »Die Tür ist doch offen, Oma!«, rief er und spielte weiter.
Es klingelte erneut. »Oh Mann! Kann man nicht einmal seine Ruhe haben, wenn man krank ist!«, ahmte er seine Oma nach und legte genervt seine Nintendo DS auf den Nachttisch.
Langsam trottete er zur Tür, nur mit einem Schlafanzug bekleidet. Sie stand offen. Tim runzelte die Stirn, als er sich dem Türspalt näherte. Es stand dort niemand, aber er entdeckte auf dem Abtreter eine weiße Schachtel mit einem roten Geschenkband. Er öffnete die Tür weiter und sah auf die Box. Seine Augen weiteten sich. »Wow! Ein Geschenk!«, sagte er und kniete sich auf den Boden.
»Das ist für dich«, sagte plötzlich eine tiefe Stimme aus einiger Entfernung. Tim sah auf und entdeckte den Nikolaus auf dem Treppenabsatz nach unten.
Tim strahlte über das ganze Gesicht. »Für mich? Echt? Aber Nikolaustag ist doch erst morgen. Du bist einen Tag zu früh!«
Der Nikolaus lachte. »Ich weiß, ich habe so wahnsinnig viel zu tun und muss dieses Jahr früher mit dem Verteilen anfangen. Mach es ruhig auf. Es ist für dich und deine Oma, eine Überraschung.«
Tim kaute mit seinen Zähnen auf der Unterlippe, dann winkte er dem Nikolaus zu, der die Stufen hinunterging und langsam aus seinem Sichtfeld verschwand. »Danke, lieber Nikolaus!«
Zwanzig Sekunden später durchbrach ein markerschütternder Schrei die Mauern des Hauses.
Eine dreiviertel Stunde später parkten Kati und Lenny hinter einem Polizeifahrzeug. Kati schloss die Tür des BMW und sah hinauf zum vierten Stock. Ein eisiger Wind fuhr durch ihre blonden Haare und auf dem Weg zur Haustür schützte sie ihren Kopf mit ihrem Schal.
Sie wiesen sich bei der Polizistin aus, die den Eingang im Auge behielt, und liefen im Treppenhaus nach oben.
Ein widerlich säuerlicher Geruch drang an Katis Nase, bevor sie den obersten Absatz erreicht hatte. Jemand hatte sich erbrochen.
Sie zeigten ihre Ausweise noch einmal vor. Der ältere Polizist mit Schnauzer war blass um die Nase und nickte ihnen stumm zu.
Kati und Lenny näherten sich der Eingangstür von Frau Müller und ihrem Enkel. Neben der Schachtel, die nur halb von dem Deckel bedeckt war, sahen sie den Grund für den ekelhaften Geruch, der in der Luft lag. Zwei Flecken mit Erbrochenem, einer links und einer rechts der Box, zierten den schwarz-weiß gesprenkelten Boden und einen Teil des Abtreters.
Kati sah sich zu Lenny um und wies mit dem Kinn in Richtung Geschenkbox. »Willst du?«
Er zuckte mit den Schultern. »Also, ich reiß mich nicht drum.«
Kati seufzte und zog ein paar Einmalhandschuhe aus ihrer Manteltasche. »Ich mach schon.«
Sie ging vor der Schachtel in die Hocke. Der Gestank des Erbrochenen wurde stärker. Kati schloss die Augen, als sie merkte, dass gleich ein dritter Flatschen dazukommen würde, wenn sie sich nicht zusammenriss. Was unangenehme Gerüche betraf, war sie sehr empfindlich.
Sie nahm den linken Arm hoch und bedeckte damit ihre Nase, dann tippte sie vorsichtig mit dem rechten Zeigefinger den Deckel zur Seite.
»Uaah«, entfuhr es ihr. Sie nahm abrupt den Arm vom Gesicht, stützte sich damit auf dem Boden ab, stand torkelnd auf und taumelte einen Schritt zurück, direkt in Lennys Arme. »Oh Gott«, rief sie und hielt sich die Hand vor den Mund.
Man hatte ihnen zwar am Telefon von dem Inhalt des Geschenks berichtet, aber den Kopf und eine weitere Hand von Tanja Müller direkt vor sich in dem Karton zu sehen, war grausam. Auf so einen Anblick konnte man sich mental nicht wirklich vorbereiten. Kati gelang es jedenfalls nicht.
Aus einem Meter Entfernung sahen Kati und Lenny zu dem Schädel im Karton. Mehrere circa einen Zentimeter lange weiße Maden krochen über das Gesicht, das eine weißgelbe Farbe aufwies und erste Zersetzungszeichen zeigte. Aus der Nase kroch eine weitere Made ans Tageslicht.
Um den Kopf herum lagen außer der Hand sechs gelbe Wunderbäume, die den süßlichen Leichengeruch noch verstärkten.
»Der Mund wurde zugenäht und es liegt auch wieder eine Schneekugel dabei«, keuchte Kati, kaum fähig, den Blick aufrecht zu halten. »Wieder mit diesem Glitzergel! Man erkennt gar nichts!«
»Hm«, brachte Lenny hervor, der sich wegdrehte und trocken würgte.
Kati gab ihm eine halbe Minute, dann trat sie zu ihm. »Geht's wieder?«
Lenny nickte. »Mein Magen ist gerade nicht so stabil. Und bei dir?«
Kati wehrte die Entschuldigung ab. »Ja … ja, es geht. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich einen abgetrennten Kopf sehe, aber trotzdem … Es ist einfach furchtbar.«
Lenny nickte. »Wenn es uns schon so mitnimmt, was hat dann erst der Junge empfunden.«
Kati schloss für eine Sekunde die Augen. Tim würde diesen Anblick wohl sein Leben lang nicht vergessen. Selbst wenn es ihm mit Hilfe von Therapeuten gelingen sollte, die Bilder im täglichen Leben zu verdrängen, in seinen Albträumen würden sie ihn verfolgen. Genau wie ihre Albträume sie verfolgten.
Lenny nahm eine kleine Flasche mit japanischem Pfefferminzöl aus der Innentasche seiner Daunenjacke und hielt es Kati hin. »Hier, streich dir davon etwas drauf.«
Kati strich sich das Öl direkt unter die Nase und atmete tief ein. »Danke. Das ist gut.«
Lenny nickte, tat es ihr gleich und reichte das Fläschchen an den Polizisten weiter, der das Öl dankbar entgegennahm.
»Zweiter Versuch«, sagte Kati, deutete ein schwaches Lächeln an und ging neben der Schachtel in die Hocke …
Blick ins Buch (Leseprobe)
Labels: Livia Pipes, Thriller
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