30. März 2022

'Irmas Enkel' von Leandra Moor

Kindle | tredition | Taschenbuch
Website Leandra Moor
Eine Geschichte, die von Heimat, Liebe und deren Verlust erzählt.

Als Anni 1946 zum zweiten Mal vor den Traualtar tritt, schließt sie mit ihrem Leben ab. Die vergangenen Jahre haben ihr die Familie genommen, die Hoffnung geraubt. Ihr einziger Anker ist das Versprechen einer Wahrsagerin.

Wird sich mit dem Mann an ihrer Seite die Prophezeiung erfüllen und ihr Leben in ein glückliches Dasein münden, obwohl die Menschen, die den Auswirkungen von Denunzierung und Verfolgung eben erst knapp entkommen sind, bereits wieder aufpassen müssen, wem sie vertrauen dürfen?

„Irmas Enkel“ wurde für die Nominierung zum Deutschen Selfpublishing-Preis 2020 eingereicht.

Anleser:
Das dritte Kind
Sie schrie, was ihrer Mutter ein Lächeln entlockte.
Der Doktor hob das Neugeborene in die Höhe. „Es ist ein Mädchen“, verkündete er.
Helene streckte ihm ihre Hände entgegen, um das Bündel in Empfang zu nehmen. Die Erleichterung, dass alles gut gegangen war, ließ die Warnung des Arztes, dass dieses Kind besser ihr Letztes sein sollte, an ihr abperlen. Sie hatte nur Augen für das zerknitterte Gesicht, das unbeholfen das Repertoire seiner Mimik erprobte.
„Kochen Sie ihr eine kräftige Suppe“, sprach der Arzt zu Helenes Mutter, die den Raum in den letzten Stunden lediglich verlassen hatte, um frische Tücher herbei zu schaffen. Auch sie hatte kein Ohr für den Doktor - Irmas Gedanken waren bei Emil, ihrem Mann. Er hatte ihr achtzehnhundertneunzig diese Kate gebaut, nachdem er dem reichen Nachbarbauern Plotz ein Fleckchen Erde abgekauft hatte. Damit war er den Pakt mit dem Schuldenteufel eingegangen, aber die Hoffnung, in diesem Dorf glücklich zu sein, wog schwerer. Wie Irma entstammte er einer der Tagelöhnerfamilien, die seit Jahrhunderten von eng abgesteckten Feldern und der Jagd in den Auenwäldern lebten. Keiner ihrer Vorfahren hatte als sein eigener Herr gewirtschaftet. Stattdessen schuftete eine Generation nach der anderen auf den Gütern des Landadels, was Hochzeiten über die Dorfgrenzen hinweg nach sich zog. So war es auch bei Irma und Emil gewesen. Allerdings hatte sie das erhoffte Glück rasch im Stich gelassen - sie hatten nicht zu denen gehört, die kinderreich die Bauernschar der nächsten Jahrzehnte in die Welt setzten. Einzig Helene war ihnen geblieben. Die beiden wertvollen Söhne waren im Kindbett entschlafen. Bereits da hatte Irma befürchtet, dass das Versprechen vom ewigen Sorgenlossein nicht viel wert sein könnte. Drei Jahre später, als Emil es nicht mehr ausgehalten hatte, durch Perlitz zu laufen, hatte sie es schließlich gewusst. Die Scham drüber, dass er keine zufriedenstellenden Antworten geben konnte, wenn ihn die Geldverleiher nach der Rückzahlung fragten, war stetig größer geworden. Eines Tages war Emil nicht mehr auf die Dorfstraße hinausgetreten, bald wagte er sich nicht einmal zu den Hühnern in den Stall. Erst blieb er im Haus, später versteckte er sich in einem einzigen Zimmer, zuletzt lag er nur noch im Bett. Und als die Zeit gekommen war, dass der Gemischtwarenhändler Irma das Anschreiben verwehrte, war er mit gesenktem Kopf über den Hof gelaufen, um sich in einer verborgenen Ecke des Ziegenstalls ein Seil zurecht zu knoten und den wurmlöchrigen Sägebock unter sich umzustoßen. Das war kurz vor dem Weihnachtsfest gewesen, als Helene drei Finger in die Luft streckte, um ihr Alter anzuzeigen, und Irma keine Ahnung hatte, von welchem Geld sie ihrer Tochter den Wunsch nach einer Puppe erfüllen sollte.
„Frau Köhler, ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, versuchte Doktor Sass, Irmas Blick zu lockern.
„Natürlich“, versicherte die Angesprochene, die die ganze Nacht gebetet hatte, dass ihr dieses neue Kind nicht das Eigene fortreißen möge.
„Bitte passen Sie auf, dass sich Ihre Tochter in den nächsten Tagen schont.“
Irma nickte.
„Gut“, gab der Arzt Zufriedenheit vor, obwohl er wusste, wie viel Arbeit auf den Schultern der beiden Frauen lastete.
„Helene, gönn dir für ein paar Tage Ruhe“, appellierte er an die Wöchnerin, „die letzten Stunden waren schwer.“ Er interpretierte Helenes Lidschlag als Versprechen, ergriff seine Tasche und verließ den Raum.
Augenblicklich tobten zwei Blondschöpfe an ihm vorbei. „Mama“, riefen sie im Chor.
Helene straffte ihre Schultern und löste eine Hand vom Säugling, um über die Gesichter ihrer Söhne zu streichen.
Seine Mutter schweißnass im Bett liegen zu sehen, ließ den zweieinhalbjährigen Alfred just losweinen. Besorgt tupfte Helene ihrem Jüngsten die Nasenspitze trocken. „Mir geht es gut“, versicherte sie. „Ich bin nur müde.“ Alfreds Kopf sank auf ihre Decke, die Daunen dämpften sein Schluchzen.
Im Gegensatz zu seinem Bruder hatte der ein Jahr ältere Willi nicht vor zu heulen. Neugierig zupfte er am Bündel auf Helenes Bauch, bis seine Schwester zum Vorschein kam. Die zugekniffenen Äuglein rührten ihn, auch bestaunte er den Flaum auf ihrem Kopf. Beinah zärtlich stupste er gegen die dünnen Finger. Seine Angst, das Baby kaputtzumachen, war groß, doch dem Mädchen gefiel die Berührung ihres Bruders. „Willi, Alfred.“ Helenes Stimme gewann an Kraft. „Das ist eure Schwester Annemarie.“
„Hallo Annemarie“, flüsterte Willi, dessen Finger die Kleine umschlossen hielt. „Schau, das Baby kann mich gut leiden“, machte er seine Mutter auf die erste Annäherung aufmerksam.
Irma zog den Schützenstoff durch ihre Augenwinkel. „Genug jetzt“, bereitete sie der Rührseligkeit ein Ende. „Ab in die Küche Jungs, ich brauche Hilfe beim Kochen.“
Alfred jammerte: „Mama bleiben.“
„Lass ihn ruhig hier.“
„Aber Willi, du kommst mit.“
Von Annemaries Anblick verzückt, bemühte sich Willi, seine Großmutter zu überhören.
„Los, das Tagwerk ruft“, wurde Irma deutlicher.
Den Ton kannte Willi, um den kam niemand herum. Seufzend zog er seinen Finger aus Annemaries Fäustchen, versprach: „Ich beeile mich, kleine Anni“, und wirbelte hinter seiner Oma her.
Alfreds Schluchzen hatte sich gelegt, sein Atem ging gleichmäßig. Helene summte ein Schlaflied, das jede Sekunde abzubrechen drohte, denn in ihr konkurrierten Glück und Kummer. „Hermann, wir haben eine Tochter bekommen“, flüsterte sie. „Sie heißt Annemarie und ist wunderschön.“
Die Wände schwiegen.
Gleich morgen würde sie ihm die Neuigkeit in die Fremde schicken, wo er mit seinen Kameraden Gefechte für den Kaiser ausfocht. Hoffentlich erreichte ihn die Nachricht schnell.
Das Baby zuckte. „Willkommen auf dieser Welt, Annemarie.“ Die Liebkosung, die Willi benutzt hatte, bevor er mit Irma in die Küche verschwunden war, gefiel Helene. Zwei kurze Silben. „Willkommen kleine Anni“, verbesserte sie ihre Begrüßung. Nebenher strich sie über Alfreds Schopf, sprach ein Gebet - erst für Hermann, dann für ihre um eine Seele reicher gewordene Familie - und ließ zu, dass sich der Schlaf über sie legte.

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8. März 2022

'Die Botin des Königs' von Sabine Buxbaum

Kindle | Tolino | Taschenbuch
Website | Autorenseite
England, 16. Jahrhundert. Nach der Hochzeit begreift Jane, dass ihr liebloser Ehemann ihr Familienerbe in Besitz bringen möchte, und er ist bereit, jeden aus dem Weg zu räumen, der ihn daran hindern könnte. Als Jane die Gefahr erkennt, flieht sie mit ihrem kranken Bruder Michael und taucht in London unter, doch bald wird das Geld knapp. Als Jane erfährt, dass die Eliteschule Gravenhorst Boten für den König ausbildet, wittert sie die Chance, ihr Leben zu verbessern. Als Mann verkleidet nimmt sie am Unterricht teil und lässt sich auf ein gefährliches Doppelspiel ein. Sie gewinnt neue Freunde und verliebt sich heimlich in ihren Ausbilder. Doch bald gerät die Situation außer Kontrolle.

Anleser:
Jane ritt durch die Dunkelheit des Waldes. Unheimliche Schatten, die das Mondlicht warf, täuschten Gestalten vor, die ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagten. Die Äste der Bäume brachen an ihrem Körper und bohrten sich in ihr Fleisch. Sie rissen ihre Ärmel in Fetzen und zerkratzten ihre Haut. Jane war erschöpft, genauso wie ihr Pferd. Es atmete schwer und strauchelte bei jeder Unebenheit.
Sie hielt kurz inne, um sich umzudrehen. Sie sah keine Lichter, kein Feuer einer Fackel. Würde sie es schaffen? War ihre Flucht unbemerkt geblieben? Vielleicht war sie eher da …

Kapitel 1 – England, Kent, September 1535
James saß auf der Veranda seines Farmhauses und beobachtete die Wolken, die über sein Land zogen. Bald würde es wieder Regen geben, wie schon zu oft dieses Jahr. Seine Schafe standen aufgrund der aufgeweichten Felder ohnehin viel zu tief im Schlamm. Das Wollgeschäft florierte, aber es forderte harte Arbeit. James betrachtete die Schwielen an seinen Händen, die sich in den letzten Jahren deutlich vermehrt hatten. Er schweifte mit den Gedanken zu seinen Kindern ab, die er nach dem frühen Tod seiner Frau zusammen mit seiner Mutter aufgezogen hatte. James seufzte. Die Zeit war an ihm vorbeigezogen und seine Kinder waren schneller erwachsen geworden, als ihm lieb war. Er sorgte sich um ihre Zukunft. Sein Sohn Michael sollte später die Schaffarm übernehmen, aber würde er es auch schaffen, sie zu bewirtschaften? Die Ärzte hatten ihm einen frühen Tod prognostiziert, nachdem er unmittelbar nach der Geburt hohes Fieber bekam. Michael überlebte im Gegensatz zu seiner Mutter die Erkrankung, aber sein Herz blieb geschwächt. James hatte schon oft miterleben müssen, wie Michael vor Erschöpfung zusammenbrach und um Luft rang. Er würde wahrscheinlich nie Familie haben und den Bestand der Farm sichern. So beruhte James‘ Hoffnung auf seiner Tochter Jane, die gerade zweiundzwanzig Jahre alt geworden war. Es war Zeit, sie vorteilhaft zu verheiraten. Gut, dass er schon jemanden für sie im Auge hatte.

Jane begleitete ihren Vater manchmal nach London. Während er die Fabriken mit seiner Wolle belieferte, konnte sie an den Märkten entlang der Themse Einkäufe erledigen. Es herrschte stets ein buntes Treiben und man lernte neue Leute kennen. Außerdem erfuhr man den neuesten Tratsch, was das Königshaus anbelangte. König Heinrich VIII. hatte die Sympathie der breiten Masse, als er König wurde. Doch sein Lebenswandel in den letzten Jahren führte zunehmend zu Unmut in der Bevölkerung. Das Jahr brachte den Menschen nicht die erwartete Ernte und es geschah, dass ein Teil der Bevölkerung an Hunger litt. Dazu wurde das Land noch von Krankheiten wie dem Schweißfieber heimgesucht. Seltsamerweise schien die fieberhafte und teilweise tödliche Erkrankung vor allem in den höheren Kreisen zu wüten.
Abergläubisch, wie die Leute zu jener Zeit waren, suchten sie einen Grund für diese Tragödien und sie fanden ihn. Sie machten die neue Frau des Königs dafür verantwortlich. Ihr Name war Anne Boleyn. Ihretwegen hatte sich der König von seiner ersten Frau Katharina von Aragon scheiden laden. Diese Scheidung war zwar vom Papst abgelehnt worden, doch der König hatte sich einfach selbst zum Oberhaupt der Kirche erklärt. Damit war er niemandem mehr unterstellt. Anne Boleyn wurde von der Bevölkerung nicht akzeptiert, und langsam schien auch der König immer weniger Wohlwollen für seine Frau aufzubringen. Auch sie schaffte es nicht, ihm den begehrten Thronerben zu gebären. Der König hatte bereits eine Tochter aus erster Ehe, und Anne schenkte ihm noch eine weitere. Der König machte die Frauen dafür verantwortlich, dass er keinen männlichen Nachfolger bekam. Er hatte es schließlich geschafft, einen unehelichen Sohn zu zeugen.
Jane fand die Geschichten rund um den König spannend.
Für sie war London immer eine willkommene Abwechslung und sie begleitete ihren Vater gerne. Nur in den Sommermonaten mochte sie die Stadt nicht. Aus der offenen Kanalisation drang der Gestank des Unrats der Leute und die Luft war stickig.
Jane war nervös, als sie erfuhr, dass ihr Vater sie den Stanfords vorstellen wollte. Sie ahnte schon, was ihr Vater im Sinn hatte. Es war an der Zeit, einen eigenen Hausstand zu gründen. Jane wollte das auch, aber irgendwie ging ihr das nun doch zu schnell. Sie liebte die Farm, die Tiere und vor allem ihren Bruder Michael. Das alles eines Tages verlassen zu müssen, machte sie traurig. Von Richard Stanford wusste sie nicht viel, nur dass er wohlhabend war. Aber sie wollte gar kein Leben im Reichtum.
An jenem Tag zog sich Jane auf Anordnung ihres Vaters ein Sonntagsgewand an. Ihr Vater spannte gleich zwei Pferde ein, um schneller nach London zu kommen. Die Fahrt über die holprigen und ausgewaschenen Wege war wenig entspannend. Jane machte sich viele Gedanken über ein mögliches zukünftiges Leben in London.
Endlich kamen sie vor dem ausladenden Fabrikgebäude der Stanfords an. Das Wetter meinte es gut mit ihnen. Es hatte aufgehört zu regnen und die Sonne spendete eine wohlwollende Wärme. Angespannt betrat Jane mit ihrem Vater das Gebäude. Der Pförtner führte sie in das Büro von Richard Stanford, der sich gleich lächelnd erhob, als die Gäste eintraten. Jane musterte Richard Stanford, der einen sehr gepflegten Eindruck machte. Er trug edle Stoffe an seinem Körper, die wohl aus seiner Fabrik stammten. Sein dunkles Haar trug er kurz geschnitten und zurückgekämmt. Ein schmaler Schnurrbart säumte seine Lippen. Er gefiel Jane. Ihr entging nicht, dass er sie musterte. Sie blickte verlegen zu Boden.
„James, schön Euch wiederzusehen. Ich hoffe, Ihr habt mir eine gute Ware mitgebracht“, begrüßte der junge Mann Janes Vater. Dann streckte er seinen Arm nach Janes Hand aus und gab ihr einen Handkuss. Diese Geste ließ Jane erröten.
Sie hoffte, dass sie elegant genug gekleidet war. In London staffierten sich die Leute der hohen Gesellschaft weit besser aus als in der ländlichen Gegend von Kent. Jane hatte sich das Haar von ihrer Großmutter hochstecken lassen, aber es war recht widerspenstig und einige Strähnen waren ihr mittlerweile ins Gesicht gefallen. Jane war sich ihrer Weiblichkeit nicht bewusst. Auf der Farm wurde sie wie ein Junge behandelt. Ihre Großmutter erzählte ihr zwar einiges über die Weiblichkeit, aber nicht alles, was sie wissen wollte.
Richard Stanford lächelte sie an. Sein Blick verriet, dass ihm gefiel, was er sah. Er wechselte jedoch nur wenige Worte mit ihr. Er fragte sie, wie es ihr in London gefiele und schätzte es, dass sie sich für den Stoffhandel interessierte. Nachdem ihr Vater seine Geschäfte mit ihm abgewickelt hatte, verließen sie die Fabrik.
„Was hältst du von ihm?“, fragte James seine Tochter, bevor sie in die Kutsche stiegen.
Jane zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht“, meinte sie ehrlich. „Ich kenne ihn kaum.“
„Du bist jetzt zweiundzwanzig Jahre alt. Viele Frauen in deinem Alter sind schon verheiratet. Du musst auch langsam daran denken, deinen eigenen Hausstand zu gründen. Es ist auch deine Aufgabe, den Fortbestand unserer Familie zu sichern. Stanford wäre eine gute Partie“, meinte ihr Vater.
Jane nickte. Sie hatte aber ihre Zweifel, ob sie in die feine Gesellschaft von London passen würde. Auch wenn ihr Richard Stanford gefiel, vermisste sie dennoch das Gefühl, dass er der Richtige sei.
Nach einer kurzen Fahrt hielt die Kutsche an.

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2. März 2022

'Roter Dunst' von Wolfgang Vogels

Kindle | Tolino | Taschenbuch
Website Wolfgang Vogels
Kinder sind meistens lieb und nett. Nicht jedoch in einem kleinen abgeschiedenen Ort mitten im Nirgendwo. Eine fremde Macht scheint von ihnen Besitz zu ergreifen. Danach sind die Kinder gar nicht mehr lieb und nett. Ganz im Gegenteil. Das bekommen ihre Eltern und andere Erwachsene schmerzlich zu spüren.

Es wird gemordet, gemetzelt, gefoltert, es ist die reinste Freude. Nur nicht für die Betroffenen …

Anleser:
»Schaut mal dort, was für eine komische Wolke«, meint Emilia, die Schwester von Leon, zwei Jahre jünger als er. »Sieht total komisch aus, so was habe ich noch nie gesehen.«
Alle starren die Wolke an. Sie kommt näher. Manche haben Angst, andere sind fasziniert. Die Wolke schiebt sich über Nachbars Garten, erreicht den Zaun, gleitet hinüber und ist nun nicht mehr weit vom Tisch der Kinder entfernt. Die Jüngste, Leons zweite Schwester, gerade fünf Jahre alt, fängt an zu weinen und ruft nach ihrem Vater. Doch er ist gerade nicht da, muss wohl ins Haus gegangen sein. Die Wolke hat mittlerweile den Tisch erreicht, nimmt ihn komplett ein. Die Kinder schauen wie durch einen roten Dunst. Sie merken nichts, keinen Geruch, auch sonst nichts. Die Wolke schwebt weiter, ist nach kurzer Zeit nicht mehr zu sehen.
Der Vater kommt zurück, er war kurz auf der Toilette. Schaut die Kinder an und fragt, ob alles in Ordnung ist. »Soll ich noch was auf den Grill legen? Möchtet ihr noch was Limo?«
Die Kinder starren ihn an, sagen nichts. Ein irgendwie leerer Ausdruck ist in ihre Gesichter getreten. Irgendwie unheimlich, findet der Vater. Ein Junge steht auf. Irgendein Freund von Leon, der Vater hat den Namen vergessen. Der Junge kommt auf ihn zu. Hat ein Messer in der Hand. Starrt Leons Vater an. Dem wird mulmig zumute, er findet die Situation merkwürdig. Irgendwas stimmt hier nicht, denkt er noch.

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1. März 2022

'Kreativer Gesellschaftsumbruch: Integration und Generationenschuld' von Daniela Muthreich

Kindle (unlimited) | Taschenbuch
Website Daniela Muthreich
Eigene Lebenserfahrung – in Poesie und Prosa, Satire und Drama verpackt

Migration einmal anders: Daniela Muthreich machte sich auf in die Schweiz. In einem Mix aus Prosa, Poesie, etwas Satire und Theaterszenen verarbeitet die gebürtige Deutsche ihre Erfahrungen bei der Integration in den Alpenstaat. Die ungewöhnliche Textform beleuchtet auf amüsante Weise Aspekte zwischenmenschlichen Zusammenlebens und reflektiert diese mit scharfem Blick und Humor. Dabei schreckt Daniela Muthreich auch vor heiklen Themen wie der Generationenschuld nicht zurück und hält sich und ihrer Umwelt einen durchaus kritischen Spiegel vor.

Gesellschaftsbeobachtungen mit Intelligenz und einem Augenzwinkern.

Achtung: Finger weg, wenn Sie Mainstream-Literatur suchen! Nur für Leser, die zwischendurch ihr Kopfkino aktivieren möchten und etwas Poesie zu schätzen wissen.

Anleser:
Sprache und Schicksal – Rückschau in die Vergangenheit
Da die Themen Sprache und Integration in eine Gesellschaft mich nicht losließen, erinnerte ich mich irgendwann an ein Ereignis aus meiner Vergangenheit: Es hatte mich ungefähr mit Mitte 20 aus beruflichen Gründen schon einmal in die Schweiz verschlagen. Damals arbeitete ich als Eventmanagerin und organisierte Tagungen, Motivations- und Belohnungsreisen für diverse Unternehmen. Bei einer Veranstaltung in der Schweiz sollte nach einer Tagung der Teamgedanke hervorgehoben werden: Motivation einer Gruppe, Intensivierung des »Wir-als-Team-Gefühls« in Form eines abschließenden Aktivprogramms – Rafting, weitere sportliche Teamspiele und Floßbau in kleineren Gruppen. Einhundert Menschen sollten hier ihre Teamfähigkeit unter Beweis stellen.
Letzte Vorbereitungen waren im Gange, als sich auf einer Wiese eine kleine, aber schicksalhafte Szene ereignete: Eine Frau bäuerlichen Standes und mittleren Alters stritt sich lautstark mit einem sehr viel älteren Herrn. Brüllend verließ sie das grüne Terrain – ich spurtete hinterher und fragte, was mit ihr los sei. Sie hob abwehrend die Hände und ließ mich ärgerlichresigniert wissen: »Der hat seinen Dickkopf. Den Mann kann man einfach nicht mehr ändern – und ich kann nun auch nichts mehr tun.«
Danach stob sie von dannen und ich starrte entsetzt auf das, was der sehr viel ältere Herr nun tat: Er riss wutentbrannt Begrenzungspfähle aus dem Grün der Wiese und warf sie achtlos zu Boden. Nein«, dachte ich, »das geht doch nicht! Die brauchen wir doch dort, sonst ist unser Feld für weitere Sportaktivitäten nicht mehr sichtbar!«
Inzwischen waren bereits Bistrotische aufgebaut worden und ganze Tischbahnen wölbten sich unter der Last von unzähligen landestypischen Leckereien, nett angeordnet im Wechsel mit kleinen Getränke-Inseln. Sonnenschirme waren hier ebenfalls schon aufgespannt und ein Mann im Kochkostüm hantierte geschäftig an einer Grillstelle.
Ein größerer Mann, den ich erst im letzten Moment als meinen damaligen Chef wahrnahm, steuerte blitzartig auf mich zu und teilte mir sehr gestresst mit: »Wir haben ein Problem. Hier kommen gleich hundert Leute und der Aufbau stockt! Gibt es eine Vereinbarung mit dem Eigentümer der Wiese?«
»Ja«, sagte ich. »Ich habe hier eine schriftliche Bestätigung inklusive Mietpreis für die Weide – und es wurde alles schon bezahlt! Außerdem habe ich eine Unterschrift.«
»Es ist immer das Gleiche in diesem Job«, sagte er, »man kann planen so gut und so viel man will, es kommt dennoch immer anders. Du musst das jetzt regeln – die Wiese ist dein Verantwortlichkeitsbereich.«
Meine letzten Worte an ihn in diesem Moment waren: »Unterschrift, Plan, Bestätigung oder Ähnliches – ich weiß es auch nicht mehr so genau …«
Zerknirscht blickte ich auf meinen Zettel – aber was nützte diese Unterschrift nun in dieser Situation? Sie war nichts mehr wert – und war sie überhaupt jemals etwas wert gewesen? »Wem ist denn hier überhaupt etwas wert?«, fragte ich mich.
Der eigentliche Besitzer der Wiese, der ältere Herr, hatte jedenfalls andere Wertvorstellungen: Weiterhin riss er kräftig einen Pfahl nach dem anderen aus seiner Wiese. Um seiner Laune Ausdruck zu verleihen, fuchtelte er dabei zwischendurch sehr unangenehm mit einem Stock herum, und ich dachte: »Sehr schön, nun bekommst du eine wertvolle Tracht Prügel für eine wertlose Unterschrift.«
Ich strebte dem uniformierten Koch an der Grillstelle entgegen und hatte das Wort Deeskalation im Kopf. Nach einem kurzen Gespräch, bei dem ich ihn um eine kühle Erfrischung in flüssiger Form und einige landestypische Leckereien bat, teilte er mir mit: »Die Schwiegertochter und der Sohn haben den Alten nicht gefragt und einfach das Geld für die Miete eingestrichen. Ihre Unterschrift ist aber nichts wert, weil der Alte der Eigentümer ist.«
»Und was kann ich da jetzt machen?«, fragte ich ihn. Kann ich mit diesem älteren Herrn nicht reden?«
»Reden?«, fragte er mich ungläubig. »Mit dem kann man nicht reden. Der spricht nur Rätoromanisch und er hat auch nur seine Kühe im Kopf. Die Pfähle machen seine Wiese kaputt: Da sind dann Löcher drin.«
»Schön«, dachte ich, »ein Mann, der seine Tiere liebt und auch die Natur – wir haben etwas gemeinsam!« Und langsam steuerte ich mit meinen Erfrischungen und Stärkungen auf ihn zu.
Sein Stock kam mir gefährlich nahe, aber ich wich nicht zurück, sondern bot ihm ein Glas Wasser an und deutete dabei mit meinem Arm auf eine Bank. Der Alte fixierte mich böse, aber dann ließ er sich doch mit mir auf dieser Bank nieder. Vorsichtig reichte ich ihm köstliche Gebäckstückchen und erkundigte mich nach seinen Kühen, die etwas höher auf einer anderen Wiese friedlich weideten. Es passierte eine ganze Weile gar nichts und ich reichte ihm weitere Gebäckstücke. Dann lobte ich die Schweizer Bergwelt und die eindrucksvollen Gipfel im Hintergrund des Tals, in dem wir saßen. Er betrachtete mich wieder eine Weile, dann sprachen wir lange über Berge und Natur, und er informierte mich über die Namen der Gebirgsspitzen im Hintergrund. Genussvoll schlürfte er dabei sein Wasser und ich reichte ihm weitere Gebäckstücke. Er sprach Rätoromanisch und ich Hochdeutsch.
Irgendwann während des Gesprächs stand ich auf und trat ein lieblos herausgerissenes Grasbüschel wieder fest, welches durch die Pfahlbegrenzung entwurzelt worden war. Dabei machte ich ein zweifelndes Gesicht und deutete auf die weiter stattfindenden Aufbauten auf seiner Wiese. Ich zeigte ihm den Zettel mit der Unterschrift, aber er sah ihn sich gar nicht an, sondern informierte mich weiter über die Umgebung. Ehrlich gesagt verstand ich nicht wirklich viel, denn ich kann kein Rätoromanisch, aber ich konnte mir aus seiner Gestik und Mimik erschließen, was er mir mitteilen wollte, und so deutete ich immer wieder auf andere Bergspitzen und erkundigte mich nach weiteren Namen. Ich wollte diese Namen wirklich wissen, weil mich das Gespräch faszinierte und die Natur sowieso.
Die Zeit, die ich ihm schenkte, war wertvoller als die Unterschrift auf diesem Zettel, und am Ende nahm er zum Abschied meine Hand in seine beiden Hände und hielt sie länger als üblich fest. Ein warmes Gefühl umschlang mein Herz, und winkend verschwand er zu seinen Kühen.
Es wurde kein Pfahl mehr herausgerissen und ich dachte eine Weile nach. Dann kam ich zu dem Schluss: »Sprache funktioniert offensichtlich auch, wenn man nicht jedes Wort versteht – man muss nur eine Basis finden. Also, mit anderen Worten: Wenn man wirklich will, dann klappt Verständigung – Kommunikation funktioniert auch ohne Worte.«

Blick ins Buch (Leseprobe)

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