'Irmas Enkel' von Leandra Moor
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Als Anni 1946 zum zweiten Mal vor den Traualtar tritt, schließt sie mit ihrem Leben ab. Die vergangenen Jahre haben ihr die Familie genommen, die Hoffnung geraubt. Ihr einziger Anker ist das Versprechen einer Wahrsagerin.
Wird sich mit dem Mann an ihrer Seite die Prophezeiung erfüllen und ihr Leben in ein glückliches Dasein münden, obwohl die Menschen, die den Auswirkungen von Denunzierung und Verfolgung eben erst knapp entkommen sind, bereits wieder aufpassen müssen, wem sie vertrauen dürfen?
„Irmas Enkel“ wurde für die Nominierung zum Deutschen Selfpublishing-Preis 2020 eingereicht.
Anleser:
Das dritte Kind
Sie schrie, was ihrer Mutter ein Lächeln entlockte.
Der Doktor hob das Neugeborene in die Höhe. „Es ist ein Mädchen“, verkündete er.
Helene streckte ihm ihre Hände entgegen, um das Bündel in Empfang zu nehmen. Die Erleichterung, dass alles gut gegangen war, ließ die Warnung des Arztes, dass dieses Kind besser ihr Letztes sein sollte, an ihr abperlen. Sie hatte nur Augen für das zerknitterte Gesicht, das unbeholfen das Repertoire seiner Mimik erprobte.
„Kochen Sie ihr eine kräftige Suppe“, sprach der Arzt zu Helenes Mutter, die den Raum in den letzten Stunden lediglich verlassen hatte, um frische Tücher herbei zu schaffen. Auch sie hatte kein Ohr für den Doktor - Irmas Gedanken waren bei Emil, ihrem Mann. Er hatte ihr achtzehnhundertneunzig diese Kate gebaut, nachdem er dem reichen Nachbarbauern Plotz ein Fleckchen Erde abgekauft hatte. Damit war er den Pakt mit dem Schuldenteufel eingegangen, aber die Hoffnung, in diesem Dorf glücklich zu sein, wog schwerer. Wie Irma entstammte er einer der Tagelöhnerfamilien, die seit Jahrhunderten von eng abgesteckten Feldern und der Jagd in den Auenwäldern lebten. Keiner ihrer Vorfahren hatte als sein eigener Herr gewirtschaftet. Stattdessen schuftete eine Generation nach der anderen auf den Gütern des Landadels, was Hochzeiten über die Dorfgrenzen hinweg nach sich zog. So war es auch bei Irma und Emil gewesen. Allerdings hatte sie das erhoffte Glück rasch im Stich gelassen - sie hatten nicht zu denen gehört, die kinderreich die Bauernschar der nächsten Jahrzehnte in die Welt setzten. Einzig Helene war ihnen geblieben. Die beiden wertvollen Söhne waren im Kindbett entschlafen. Bereits da hatte Irma befürchtet, dass das Versprechen vom ewigen Sorgenlossein nicht viel wert sein könnte. Drei Jahre später, als Emil es nicht mehr ausgehalten hatte, durch Perlitz zu laufen, hatte sie es schließlich gewusst. Die Scham drüber, dass er keine zufriedenstellenden Antworten geben konnte, wenn ihn die Geldverleiher nach der Rückzahlung fragten, war stetig größer geworden. Eines Tages war Emil nicht mehr auf die Dorfstraße hinausgetreten, bald wagte er sich nicht einmal zu den Hühnern in den Stall. Erst blieb er im Haus, später versteckte er sich in einem einzigen Zimmer, zuletzt lag er nur noch im Bett. Und als die Zeit gekommen war, dass der Gemischtwarenhändler Irma das Anschreiben verwehrte, war er mit gesenktem Kopf über den Hof gelaufen, um sich in einer verborgenen Ecke des Ziegenstalls ein Seil zurecht zu knoten und den wurmlöchrigen Sägebock unter sich umzustoßen. Das war kurz vor dem Weihnachtsfest gewesen, als Helene drei Finger in die Luft streckte, um ihr Alter anzuzeigen, und Irma keine Ahnung hatte, von welchem Geld sie ihrer Tochter den Wunsch nach einer Puppe erfüllen sollte.
„Frau Köhler, ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, versuchte Doktor Sass, Irmas Blick zu lockern.
„Natürlich“, versicherte die Angesprochene, die die ganze Nacht gebetet hatte, dass ihr dieses neue Kind nicht das Eigene fortreißen möge.
„Bitte passen Sie auf, dass sich Ihre Tochter in den nächsten Tagen schont.“
Irma nickte.
„Gut“, gab der Arzt Zufriedenheit vor, obwohl er wusste, wie viel Arbeit auf den Schultern der beiden Frauen lastete.
„Helene, gönn dir für ein paar Tage Ruhe“, appellierte er an die Wöchnerin, „die letzten Stunden waren schwer.“ Er interpretierte Helenes Lidschlag als Versprechen, ergriff seine Tasche und verließ den Raum.
Augenblicklich tobten zwei Blondschöpfe an ihm vorbei. „Mama“, riefen sie im Chor.
Helene straffte ihre Schultern und löste eine Hand vom Säugling, um über die Gesichter ihrer Söhne zu streichen.
Seine Mutter schweißnass im Bett liegen zu sehen, ließ den zweieinhalbjährigen Alfred just losweinen. Besorgt tupfte Helene ihrem Jüngsten die Nasenspitze trocken. „Mir geht es gut“, versicherte sie. „Ich bin nur müde.“ Alfreds Kopf sank auf ihre Decke, die Daunen dämpften sein Schluchzen.
Im Gegensatz zu seinem Bruder hatte der ein Jahr ältere Willi nicht vor zu heulen. Neugierig zupfte er am Bündel auf Helenes Bauch, bis seine Schwester zum Vorschein kam. Die zugekniffenen Äuglein rührten ihn, auch bestaunte er den Flaum auf ihrem Kopf. Beinah zärtlich stupste er gegen die dünnen Finger. Seine Angst, das Baby kaputtzumachen, war groß, doch dem Mädchen gefiel die Berührung ihres Bruders. „Willi, Alfred.“ Helenes Stimme gewann an Kraft. „Das ist eure Schwester Annemarie.“
„Hallo Annemarie“, flüsterte Willi, dessen Finger die Kleine umschlossen hielt. „Schau, das Baby kann mich gut leiden“, machte er seine Mutter auf die erste Annäherung aufmerksam.
Irma zog den Schützenstoff durch ihre Augenwinkel. „Genug jetzt“, bereitete sie der Rührseligkeit ein Ende. „Ab in die Küche Jungs, ich brauche Hilfe beim Kochen.“
Alfred jammerte: „Mama bleiben.“
„Lass ihn ruhig hier.“
„Aber Willi, du kommst mit.“
Von Annemaries Anblick verzückt, bemühte sich Willi, seine Großmutter zu überhören.
„Los, das Tagwerk ruft“, wurde Irma deutlicher.
Den Ton kannte Willi, um den kam niemand herum. Seufzend zog er seinen Finger aus Annemaries Fäustchen, versprach: „Ich beeile mich, kleine Anni“, und wirbelte hinter seiner Oma her.
Alfreds Schluchzen hatte sich gelegt, sein Atem ging gleichmäßig. Helene summte ein Schlaflied, das jede Sekunde abzubrechen drohte, denn in ihr konkurrierten Glück und Kummer. „Hermann, wir haben eine Tochter bekommen“, flüsterte sie. „Sie heißt Annemarie und ist wunderschön.“
Die Wände schwiegen.
Gleich morgen würde sie ihm die Neuigkeit in die Fremde schicken, wo er mit seinen Kameraden Gefechte für den Kaiser ausfocht. Hoffentlich erreichte ihn die Nachricht schnell.
Das Baby zuckte. „Willkommen auf dieser Welt, Annemarie.“ Die Liebkosung, die Willi benutzt hatte, bevor er mit Irma in die Küche verschwunden war, gefiel Helene. Zwei kurze Silben. „Willkommen kleine Anni“, verbesserte sie ihre Begrüßung. Nebenher strich sie über Alfreds Schopf, sprach ein Gebet - erst für Hermann, dann für ihre um eine Seele reicher gewordene Familie - und ließ zu, dass sich der Schlaf über sie legte.
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Labels: Biografie, Erinnerungen, Leandra Moor, Roman