'Es war einmal in Deutschland' von Stefan Barth
Deutschland, April 1945, die letzte Kriegswoche.
Der vom langen Krieg desillusionierte Landser Heinrich erfährt, dass seine Frau und eins seiner beiden Kinder bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen sind. Er desertiert, um an die Seite seiner jüngsten Tochter zu eilen. Doch er gerät in die Fänge einer SS-Einheit.
Der fanatische Obersturmbannführer von Starnfeld macht kurzen Prozess mit Vaterlandsverrätern und hängt Heinrich am nächsten Baum auf. Als er von der jungen Bäuerin Elsa vor dem sicheren Tod gerettet wird, glaubt Heinrich, seinen Heimweg fortsetzen zu können. Stattdessen gerät er in einen blutigen Konflikt um das versteckte Gold einer ermordeten jüdischen Industriellen-Familie.
Um nach Hause zu kommen zu seinem Kind, muss Heinrich ein letztes Mal kämpfen. Härter als je zuvor.
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Er hört sie, als er ungefähr die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hat. Das dunkle Brummen der schweren Motoren erfüllt die Frühlingsluft und verdrängt das Gezwitscher der Vögel.
Er bleibt nicht stehen, behält den Laufschritt bei und dreht den Kopf. Sieht sie über die Straßenkuppe kommen. Ein VW Kübelwagen 82, ein BMW Kraftrad R 75 und ein Opel Lastwagen.
Deutsche.
Wehrmacht.
Kein Laufschritt mehr – er rennt.
Ein Typ in Uniform, der vor seinen eigenen Leuten davon läuft, da braucht man kein Nobelpreisträger sein, um zu wissen, dass man einen Deserteur vor sich hat. Aber was soll er sonst tun? Einfach lässig weitertraben, so als sei nichts geschehen? Hoffen, dass sie ihm im Vorbeifahren einfach nur kameradschaftlich zuwinken? Ihm eine gute Reise wünschen und liebe Grüße an die Familie? Hoffen, dass sie Wichtigeres zu tun haben, als sich mit ihm zu befassen? Zum Beispiel ihre Ärsche ins letzte, sinnlose Gefecht werfen?
Nein. Er hat keine Wahl. Er muss rennen.
Um sein Leben.
Dabei hat er bisher so viel Glück gehabt. Mehrere Wochen unterwegs. Keine Chance, die verdammte Uniform loszuwerden. Und trotzdem ist es ihm immer gelungen, den eigenen Leuten auszuweichen. Er hat im Dreck geschlafen, bei Wind und Wetter, hat sich von jeder Stadt, jedem Dorf, jedem Gehöft ferngehalten. Außer um hier und da mal Nahrungsmittel zu klauen. Es hätte sicher Menschen gegeben, die bereit gewesen wären, zu helfen. Aber das weiß man nicht, wenn man vor ihnen steht. Und sich einfach darauf verlassen?
Nein.
In diesen Tagen kann man niemandem trauen.
Niemandem, außer sich selbst.
Selbst dann kann man einfach Pech haben. So wie er jetzt. Vor fünf Minuten noch hat er im Wald auf der anderen Straßenseite gehockt. Hatte das letzte Stück Schokolade aus der Silberfolie gepult und sich in den Mund geschoben. Energie. Die Sonne hatte ihm wohlig ins Gesicht geschienen und er hatte diesen Moment genossen, hatte ein paar Minuten so verharrt, die Schokolade im Mund schmelzen lassen, die Sonne warm auf seiner Haut. Vielleicht sind ihm diese paar Minuten jetzt zum Verhängnis geworden.
Nein, denkt er, es ist einfach Pech.
Er hat in den letzten Jahren eine Menge Männer gesehen, die Pech hatten. Dutzende. Hunderte. Männer, die nie wieder nach Hause zurückkehren werden.
Nach Hause.
Diese zwei Worte geben ihm die nötige Kraft, noch schneller zu laufen. Der schützende Waldrand kommt näher. Nicht mehr weit, fast geschafft.
Auf der Straße brummen noch immer die Motoren, aber irgendetwas an ihrem Geräusch ist anders, und er weiß auch sofort was – sie schalten. Die Angst ist wie eine eiskalte Faust in seiner Magengrube.
Ein Blick über die Schulter bestätigt, was er geahnt hat. Kübelwagen, Motorrad und Lastwagen sind von der Straße auf den Rasen gebogen. Dreck spritzt hinter ihren Reifen in die Höhe.
Sie haben ihn gesehen und sie wollen nicht an ihm vorbeifahren und ihm zuwinken.
Nein, sie heften sich an seine Fersen. Sie wollen ihn schnappen. Sie wissen, was er ist und sie wollen ihn dafür bestrafen. Das muss sein, werden sie sagen, zur Abschreckung für alle anderen.
Er hat einige gesehen, die, so wie er, alles hingeschmissen haben und nach Hause wollten. Er hat ihre Körper gesehen, wie sie an Bäumen und Straßenmasten baumelten, an Brückenpfeilern und Telefonmasten. Wie Vögel auf ihren Schultern saßen und mit spitzen Schnäbeln nach ihren Augen hackten.
Es hat ihn nicht abgeschreckt. Es hat ihn bestätigt.
So will er nicht enden. Nicht nachdem er sechs Jahre Krieg überstanden hat. Er darf so nicht enden. Er kann nicht zulassen, dass die kleine Karin ohne Vater aufwächst.
Er muss überleben.
Also rennt er noch schneller. Seine Beine fliegen über den Rasen. Einmal im Wald, kann er sie bestimmt abhängen. Vielleicht verlieren sie die Lust auf dieses Spielchen, sobald es anstrengend wird. Sie werden müde sein, kaputt, erschöpft, so wie alle Soldaten.
Das hofft er jedenfalls.
Und dann tritt er in das Erdloch.
Der Schmerz explodiert in seinem Knöchel wie eine Panzergranate und schießt nach oben, durch sein gesamtes Bein. Er schreit und er stürzt, schlägt der Länge nach hin und der Aufprall haut ihm die Luft aus den Lungen.
Der Schmerz ist grell und bunt und laut, aber er kämpft sich trotzdem wieder auf die Beine.
Seine Verfolger haben aufgeholt.
Er kann jetzt sogar Gesichter erkennen, die der Männer auf dem Motorrad und im Beiwagen, die der Männer im Kübelwagen, einer von ihnen bestimmt ein Offizier, und die der Soldaten, die von der Ladefläche des Lastwagens über das Führerhaus blicken.
Weiter, treibt er sich an, weiter.
Aus dem Rennen wird ein klägliches Humpeln, der Schmerz pocht und pumpt und pulsiert.
Und dann ist er da, der Waldrand. Er taumelt zwischen die ersten Bäume, verliert das Gleichgewicht, kann sich vor einem weiteren Sturz bewahren, in dem er sich an einen dünnen Baumstamm klammert.
Ein Blick zurück. Sie haben angehalten und er sieht die Soldaten von der Ladefläche des Lastwagens springen, Maschinenpistolen und Karabiner in den Händen. Der Fahrer des Motorrads, ein hünenhafter Kerl, gestikuliert wild mit den Armen und brüllt etwas.
Er sieht noch etwas anderes.
Ihre Uniformen.
Nicht Wehrmacht.
SS.
Sie rennen auf den Waldrand zu und plötzlich glaubt er nicht mehr daran, dass sie die Lust verlieren, sobald es anstrengend wird. Nein, diese Typen sind Schäferhunde, abgerichtet und bissig, die geben nicht eher auf, bis sie ihre spitzen Zähne in sein Fleisch versenken können.
Er stolpert weiter. Weiß, dass seine Chancen auf Null gesunken sind, aber er wird trotzdem nicht aufgeben.
Er hört sie hinter sich durchs Unterholz brechen wie ein Rudel Wildschweine. Sie werden ausschwärmen und versuchen, ihn in die Zange zu nehmen.
Dann fangen sie an zu schießen.
Eine Maschinenpistolen-Salve frisst sich durch Bäume und Blätter, geht aber noch weit an ihm vorbei. Der Wald ist dicht und wäre noch undurchsichtiger, wenn schon mehr Blätter an den Bäumen wachsen würden. Aber dafür ist es zu früh, es ist April, der Baumbewuchs noch spärlich und deswegen können sie immer sehen, wo er ist.
Der nächste Schuss kommt aus einem Karabiner und der Schütze scheint sich die Zeit genommen zu haben, stehenzubleiben und zu zielen. Das Geschoss zerfetzt dicht neben ihm die Baumrinde und spritzt sie schmerzlich in sein Gesicht.
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Labels: History, Stefan Barth, Thriller