23. Dezember 2016

'Ein Hauch von Chianti' von Monica Bellini

Alessandra hat wenig Lust auf das Klassentreffen nahe Florenz, obwohl seit dem Abitur fünfzehn Jahre vergangen sind. Zu viele traurige Erinnerungen verbinden sie mit ihrer früheren Heimat.

Doch als sie ihren Freund mit einer Klientin in ihrem Bett überrascht, verlässt sie London und reist mit gemischten Gefühlen in die Toskana. Schon der erste Nachmittag, den sie in einem faszinierenden Schlosshotel verbringt, birgt eine unerwartete, heiße Begegnung, und nach dem gemeinsamen Abendessen mit den ehemaligen Klassenkameraden überschlagen sich die Ereignisse. Aber – was davon ist real, was nicht? Und gibt es ihren geheimnisvollen Traummann tatsächlich oder … ist er nur eine Illusion?

Ein prickelnd erotisches „Küsschen“ von Monica Bellini – mit einem Hauch Geheimnis gewürzt! Bacetto, die Verniedlichung des italienischen „bacio“, bedeutet so viel wie „Küsschen". Hingehaucht, wie die sinnlichen Kurzgeschichten „ELR bacetto".

Gleich lesen: Ein Hauch von Chianti

Leseprobe:
Der Innenhof wird von Laternen erleuchtet, ihr gelbliches Licht wirft flackernd verschwommene Schatten. In kleinen Grüppchen stehen Menschen herum, die ich nicht erkenne. Ihre Konturen sind unscharf. Aus einer Ecke des Atriums dringt sanfte Geigenmusik, überlagert die Unterhaltung der Anwesenden. Die Zwillinge tragen kirschrote, knöchellange Gewänder und halten sich an den Händen. Ich nicke ihnen zu, doch sie erwidern meinen Gruß nicht, sind in ein Gespräch mit drei Männern vertieft, die mir den Rücken zuwenden. Plötzlich steht Pernilla vor mir. Die schwarze Tunika lässt sie größer wirken als eins achtzig. Ich fühle mich winzig wie die berühmte Maus neben dem Elefanten. Natürlich sage ich es ihr, aber sie winkt lachend ab. Wie zu Schulzeiten.
»Nella Botte piccola ci sta il vino buono. In den kleinen Fässern ist der beste Wein«, erwidert sie und zieht mich mit sich. »Ich muss dich zu jemandem bringen, Alessandra. Er wartet schon so lange auf dein Kommen!«
Erstaunt werfe ich ihr einen Seitenblick zu, doch ihr Blick ist geradeaus gerichtet. Sie umklammert mein Handgelenk fester. Wir steigen einige Steintreppen nach unten, überqueren eine Rasenfläche und gelangen zu einer kleinen Terrasse mit einem einzelnen Tisch und zwei Stühlen. Einer ist besetzt. Wir treten näher und ich erkenne ein markantes Gesicht. Aristokratisch ist mein erster Gedanke. Hohe Wangenknochen, ausgeprägtes Kinn, diabolische Augenbrauen. Ein Schauer lässt mich frösteln. Die dunklen Augen des Mannes sehen durch mich hindurch, als ob ich gläsern wäre.
Oder in mich hinein.
Ich kann seinen Blick nicht einfangen. Seine Nasenflügel vibrieren, als Pernilla meine Hand in seine legt. Er steht auf und beugt sich vor. Ein heißer Lufthauch trifft meinen Handrücken wie glühende Funken. Ich bebe, greife tastend nach meiner Freundin, doch sie ist verschwunden. Er umfasst stützend meine Taille, geleitet mich zum Stuhl. Seine Berührung fühlt sich an, als ob ich ihn schon ewig kennen würde. Er ist mir vertraut. Seine Haut, sein Geruch, die Stimme, als er endlich spricht. Tief, rauchig, sinnlich.
»Weshalb bist du damals davongelaufen, Alessandra? Du warst plötzlich verschwunden.«
Seine dunklen Augen schimmern im Mondlicht. Ich verstehe seine Frage nicht, doch ich will es nicht zugeben, da ich Angst habe, er könnte verschwinden. So umgehe ich die Antwort, hebe die Hand und zeichne mit der Fingerspitze seine Lippen nach. Der Kontakt unserer Haut löst eine Kettenreaktion aus. Seine Energie dringt in mich ein, durchläuft den Arm, breitet sich in meiner Brust aus, wärmt mein Herz, erfüllt den Bauchraum.
Wie ein glühender Feuerball nimmt dieser Mann von mir Besitz. Ich will den Finger von ihm lösen, doch ich kann nicht.

Im Kindle-Shop: Ein Hauch von Chianti

Mehr über und von Monica Bellini auf ihrer Website.

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21. Dezember 2016

'Das Erbe des Antipatros' von Jörg Olbrich

Während einer ganz normalen Klassenfahrt nach Athen passiert es. Der Abiturient Ralf hat einen Blackout, und als er wieder zu sich kommt, traut er seinen Augen nicht: Vor ihm erhebt sich das, was wir heute als die Pyramiden von Giseh kennen. Doch wie kann das sein? Warum sperrt man ihn ins Gefängnis und bezichtigt ihn der Sabotage? Er hat doch nichts getan, war bis vor Kurzem noch nicht einmal hier. Und was hat dieser Antipatros mit all dem zu tun?

Wenn er überleben und in seine Zeit zurückkehren will, muss Ralf der Sache auf den Grund gehen und herausfinden, was gespielt wird.

Gleich lesen: Das Erbe des Antipatros



Leseprobe:
Die Stimme drang zu mir wie durch dichten Nebel und ich konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde. Es interessierte mich auch nicht. Ich hielt die Augen fest geschlossen, aber der plötzliche Schwindel in meinem Kopf wollte nicht verschwinden. Jemand rüttelte mich an der Schulter.
»Geh zu deiner Gruppe, oder du bekommst meine Peitsche zu spüren.«
Ich öffnete langsam die Augen. Es dauerte einen Moment, bis sich der Schleier lüftete und ich erkennen konnte, wer mit mir sprach. Ausdruckslos starrte ich den fremden Mann vor mir an. Er trug nur eine Art Hemd, das ihm bis zu den Knien reichte, und keine Schuhe. Wer war der Kerl und was wollte er von mir?
»Du hältst alle Arbeiter auf. Es ist schon schlimm genug, dass du zu Arbeitsbeginn nicht hier warst. Die Strafe des Chafre wird dich treffen, wenn du meinen Anweisungen nicht sofort folgst.«
Was war mit dem Kerl los? Ich hatte immer noch das Gefühl Spinnenweben in meinem Kopf zu haben. Wo waren Tim und die anderen? Verwirrt blickte ich an dem Fremden vorbei und traute meinen Augen nicht. Von weit oben sah ich auf eine riesige Wüstenkulisse herab. Es gab keine Häuser und keine Straßen. Nur Sand, so weit das Auge reichte. Die Umgebung war mir völlig fremd und ich hatte nicht die geringste Vorstellung, wo ich mich befand.
»Ich warne dich kein weiteres Mal!«
Ein kurzer Blick in das Gesicht des Fremden reichte mir, um zu erkennen, dass er es ernst meinte. Also stand ich mühsam auf und ging mit unsicheren Schritten zu den anderen Männern, die mich bereits erwarteten und böse anschauten. Wo war ich? Und wie kam ich hier-her?
Meine Gedanken überschlugen sich, ohne dabei zu einem Ergebnis zu kommen. Wenn sich jemand einen Scherz mit mir erlaubte, hatte er sich größte Mühe damit gegeben. Jedes Detail wirkte echt. Was war hier los?
Erst einmal versuchte ich, mich in der ungewohnten Umgebung zu orientieren. Ich befand mich auf einer riesigen Rampe, die steil nach oben führte. Links von mir stand eine Mauer und auf der anderen Seite ging es senkrecht in die Tiefe.
Die Gruppe, zu der ich geschickt worden war, bestand mit mir aus vierzehn Männern, die in zwei Siebenerreihen hintereinander aufgestellt waren und an unterarmdicken Tauen zogen. Ratlos nahm ich meinen Platz am Ende der linken Reihe ein.
Die Seile waren an einem Steinblock befestigt, der fast die Größe eines Kleinwagens hatte. Ich schätzte sein Gewicht auf über eine Tonne. Die Rampe, auf der wir den Stein hochzogen, war mit Schlamm ausgegossen, den die Hitze aber ausgetrocknet und ihm somit seine Gleitwirkung entzogen hatte.
Meine innere Stimme sagte mir, dass es das Beste wäre, mich zunächst einfach ruhig zu verhalten und abzuwarten, was passierte.
Die anderen Männer waren mindestens einen Kopf kleiner als ich, hatten schwarze Haare und waren sonnengebräunt. Sie trugen keine Schuhe und nur weiße Schürzen oder Hemden. Verblüfft stellte ich fest, dass ich die gleiche Kleidung anhatte. Wie war das möglich?
Wir kamen nur sehr langsam voran. Die Taue rieben über meine Handflächen, die entsetzlich schmerzten. Die Sonnenstrahlen taten ein Übriges und trieben mir den Schweiß auf die Stirn. Das Atmen fiel mir zunehmend schwerer. Die keuchenden Laute meiner Leidensgenossen verrieten mir, dass es ihnen nicht besser ging. Um Luft ringend, zogen wir den Fels-brocken Zentimeter für Zentimeter vorwärts.
Jeder kleine Stein, auf den ich mit meinen nackten Füßen trat, ließ die Schmerzen bis zu meinen Oberschenkeln emporschießen. Hinzu kam die Angst, auf dem unebenen Boden den Halt zu verlieren und in die Tiefe zu stürzen. Was sollte das alles?
Zum Glück konnte ich fünf Meter vor mir eine Biegung erkennen und hoffte, mehr zu sehen, wenn wir sie erst einmal passiert hatten. Lange würde ich diese Strapaze nicht mehr aushalten.

Im Kindle-Shop: Das Erbe des Antipatros

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17. Dezember 2016

'Die Ungeliebten' von Mark Franley

Jedes Dorf hat sein Geheimnis. Einige sind harmlos, manche liegen weit in der Vergangenheit und wieder andere schockieren uns bis aufs Mark.

Als René kurz vor einem Zusammenbruch steht, schlägt ihm seine Agentin eine Auszeit vor. Das kleine Bergdorf scheint perfekt. Abgeschieden von der restlichen Welt, sollte seine müde Seele hier Erholung finden. Doch er ist nicht zufällig hier, denn die verschworene Gemeinschaft hat ihre ganz eigenen Pläne mit ihm und seine Rückkehr ist dabei nicht vorgesehen.

Eine winterliche Kurzgeschichte mit Gruselfaktor vom Bestseller-Autor Mark Franley.

Gleich lesen: Die Ungeliebten

Leseprobe:
Erschöpft ließ sich René in den Bürostuhl sinken und sah dabei zu, wie der letzte Kunde die bereits geschlossene Buchhandlung verließ. Trotz der erfolgreichen Signierstunde fühlte er sich irgendwie matt und freudlos. Ein Zustand, den er in letzter Zeit immer öfter an sich feststellen musste.
Für einen Augenblick dachte er zurück an die Zeit, als er sich noch über jedes einzelne verkaufte Buch freute. Jetzt rechnete er in Tausender-Sprüngen, und selbst die Hunderttausender-Marke wurde gerade einmal mit einem Glas Champagner gewürdigt. Seit einigen Wochen musste er zur Kenntnis nehmen, dass auch Erfolg zur Gewohnheit werden kann.
»Herr Bergmann?« Er zuckte zusammen. Neben ihm stand eine der Buchhändlerinnen, eine attraktive Blondine. Sichtlich nervös hielt sie eines seiner Bücher in der Hand.
»Oh …«, stammelte die Verkäuferin schüchtern, »… ich wollte Sie nicht erschrecken!«
»Ist schon gut«, entgegnete er mit einstudiertem Lächeln und brachte wieder Haltung in seinen Körper. Er streckte die Hand nach dem Buch aus und fragte: »Ich nehme an, Sie möchten, dass ich es signiere?«
Jetzt lächelte auch die Blondine, gab ihm das Buch und hauchte: »Könnten Sie bitte ›für Maria‹ hineinschreiben?«
»Aber klar!«, antwortete er und tat ihr den Gefallen. Anschließend stand er auf, nahm seine Jacke und verabschiedete sich von der Filialleiterin, die gerade die letzte der fünf großen Glastüren abschließen wollte.

Der Novemberabend empfing ihn mit einer eisigen Windböe und gehetzten Passanten, von denen die meisten in Richtung der U-Bahn-Station eilten. Frankfurts Einkaufsmeile leerte sich langsam und in immer mehr Schaufenstern wurde bereits auf Nachtbeleuchtung umgeschaltet. René wünschte sich, einer von vielen zu sein. Einfach nach Hause zu fahren, sich ein Bier aufzumachen und an nichts mehr denken zu müssen. Stattdessen stand noch das Treffen mit seiner Agentin an, und Rosi konnte er nicht vor den Kopf stoßen.
Mit kalten Fingern zog er den Reißverschluss seiner Jacke noch ein Stück höher und folgte dann der Einkaufpassage einem scheinbar nie endenden Strom aus Menschen entgegen. Eigentlich liebte er lange Spaziergänge, heute war er jedoch dankbar, dass es nur wenige hundert Meter bis zu dem Lieblingslokal seiner Agentin waren.
Einige Minuten später trat René durch die massive Holztür des Restaurants. Er kam noch nicht einmal dazu seine Jacke zu öffnen, als er auch schon nach seiner Reservierung gefragt wurde. Bereits bei seinem ersten Besuch hatte er den Eindruck, dass die Kellner darauf abgerichtet waren, das Lokal gegen das normale Fußvolk zu verteidigen. Hinein kam nur, wer Beziehungen hatte oder ausdrücklich eingeladen wurde.
»Ich habe eine Verabredung mit Rosmarie Schreiber«, lautete Renés unterkühlte Antwort, noch bevor der Mann im schwarzen Anzug ihn danach gefragt hatte. Ohne eine Miene zu verziehen, nahm ihm dieser die Jacke ab, reichte sie an die Garderobendame weiter und führte ihn zu einem Tisch, der sich in einer der ruhigeren Nischen befand.
Rosi war mehr als doppelt so alt wie er selbst, sah aber trotz ihrer zweiundsiebzig Jahre um einiges lebendiger aus, als er sich fühlte. Wie immer brauchte es nur einen kurzen Moment ihres herzlichen Lächelns und René fühlte sich augenblicklich etwas besser.
Er gab seiner Agentin die Hand und begrüßte sie mit den Worten: »Ich hoffe, du wartest noch nicht allzu lange. Ich dachte schon, die wollen den Laden so lange geöffnet lassen, bis keiner mehr kommt.«
Rosi winkte ab: »Auf dich warte ich doch gerne! Wie ist es denn gelaufen? Du siehst ziemlich erschöpft aus.«
René ließ sich ihr gegenüber nieder, und da der offensichtlich ziemlich humorlose Kellner keine Anstalten machte, sie alleine zu lassen, bestellte er ein Glas trocknen Weißwein.
René blickte dem davonstolzierenden Kellner kurz hinterher und sagte dann an Rosi gewandt: »Es lief gut. Sehr gut sogar.«
»Und warum siehst du dann nicht danach aus?« Rosi musterte ihn mit diesem wissenden Blick, mit dem er bis heute nicht umgehen konnte. Am Anfang hatte er sie für eine ziemlich affektierte alte Frau gehalten – immer etwas zu dick geschminkt, immer etwas zu bunt gekleidet. Doch bereits während des zweiten Gesprächs hatte er erkannt, dass sie nicht nur eine herausragend konstruktive Kritikerin und brillante Verkäuferin war, sondern auch eine wahre Menschenkennerin. In den fünf Jahren ihrer Zusammenarbeit hatte er ihr nicht ein einziges Mal etwas vormachen können, also versuchte er es gar nicht erst.
Ohne Scheu sah er in ihre vom Alter schon etwas milchig-blauen Augen und gab zu: »Ich fühle mich total ausgebrannt. Nichts macht mehr wirklich Spaß, noch nicht einmal die guten Verkaufszahlen des letzten Romans. Mir geht einfach alles nur noch auf die Nerven.«
Sie dachte einen Augenblick nach und antwortete dann einfach und ohne jeden Vorwurf in der Stimme: »Verstehe!«
Der Wein wurde gebracht und René nach seinem Essenswunsch gefragt. Rosi hatte bereits bestellt und so verlangte er einfach das Gleiche wie sie. Eigentlich hatte er keinen Hunger, aber das wäre unhöflich gewesen.
Der Kellner verschwand wieder und René nippte abschätzend an seinem Glas. Der Wein schmeckte zunächst gut, dann aber so leer, wie René sich fühlte. Er stellte das Glas beiseite, senkte den Blick und fragte dann: »Bis wann wollen die das nächste Skript?«
»Eigentlich noch in diesem Jahr«, antwortete Rosi und legte ihre faltigen Hände über seine, »aber ich kann sie sicher auf Ende Januar vertrösten.« Und nach einer kurzen Pause fragte sie: »Schaffst du das in zwei Monaten?«
Er dachte einen Augenblick darüber nach, dann hob er den Blick: »Nicht mit dem Trubel um mich herum. Ich bräuchte einfach nur Ruhe, um wieder produktiver zu werden. Vor lauter Telefonaten, E-Mails und Einladungen komme ich zu nichts Anderem mehr. Geschweige denn, dass ich den Kopf für meine Story frei bekomme.« Er schaffte ein Lächeln. »Kennst du nicht eine einsame Insel ohne Handyempfang und möglichst weit weg?«
Rosi erwiderte sein Lächeln, und René glaubte schon, sich verhört zu haben, als sie verkündete: »Doch, so etwas Ähnliches kenne ich tatsächlich.«
»Du hast eine einsame Insel für mich?«, fragte René ungläubig nach.
Nun war es Rosi, die zu ihrem Glas griff und einen ordentlichen Schluck nahm: »Natürlich habe ich keine Insel, aber ich kenne einen Ort, der ebenso ruhig ist. Es ist schon einige Jahre her, als ich eine Wanderung im Lechtal unternahm und auf dieses winzige Dorf gestoßen bin. Die Bewohner meiden den Kontakt zur Außenwelt, nehmen aber ab und zu einen Gast bei sich auf, um Geld für das Nötigste zu verdienen. Ich habe schon einige Autoren dorthin geschickt, und für jeden war es eine Inspiration. Wenige Menschen, kein Handyempfang und die Unterkunft auf das Notwendige reduziert ... Wie klingt das?«
»Österreich«, stellte René etwas enttäuscht fest.
»Ohne Handy und ohne Auto!«, bestätigte Rosi erneut.
»Wieso ohne Auto?«, hakte René nach und sorgte damit für ein erneutes Grinsen bei Rosi.
»Weil sich das Dorf auf einer Hochebene befindet und nur mit einer kleinen Seilbahn erreichbar ist. Du siehst, es ist fast wie eine Insel.«
Was René im ersten Augenblick völlig absurd vorkam, nahm in seinem Kopf langsam Gestalt an. Natur, Ruhe, lange Spaziergänge – er konnte es nicht leugnen, die Idee hatte etwas Verlockendes. Wie zur Bestätigung drang im selben Moment das aufdringliche Brummen seines Handys aus der Hosentasche und er wusste schon, bevor er auf das Display sah, wer ihn da anrief. Eigentlich hatte er genau dafür Rosi engagiert, doch sein Verleger hatte es sich angewöhnt, ihn nach jeder Lesung persönlich anzurufen. Er verdrehte die Augen, zeigte Rosi das Gerät und erklärte: »Herr Karlson.«
Ohne zu fragen, nahm sie ihm das Gerät aus der Hand, hob ab und erklärte dem Verleger freundlich, aber bestimmt, dass Herr Bergmann im Moment verhindert sei. Dann versicherte sie ihm, dass die Lesung wieder ein voller Erfolg gewesen war, und legte auf.
»Danke!«, sagte René, als er sein Handy wieder in Empfang nahm.
»Also, was sagst du zu meinem Vorschlag?« Rosi sah ihn erwartungsvoll an.
Er ging kurz in sich und schlug dann vor: »Schick mir doch einfach mal die Adresse dieses Dorfes und ich denke in der Zwischenzeit darüber nach. Aber grundsätzlich klingt das schon nach einer Umgebung, in der sich mein Thriller quasi wie von selbst schreiben würde.«
Fünf Minuten später erschien der Kellner und brachte zusammen mit einem Kollegen die bestellten Speisen. René und Rosi versuchten das Gespräch auf alltägliche Dinge zu lenken, landeten aber immer wieder bei der Arbeit. Zwei Stunden und drei Gläser Wein später verabschiedeten sie sich herzlich und vereinbarten, in den nächsten Tagen zu telefonieren.

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15. Dezember 2016

'Avandur: Reise in die Vogelfreiheit' von Günther Höfers

»Ihm schlug das Herz bis zum Hals, keine guten Voraussetzungen für einen genauen Schuss. Er zwang sich zur Ruhe, atmete so leise wie möglich tief ein und aus. Der Feuerschein der Fackel erfasste ihn nun voll, aber der Ork schaute in die andere Richtung. Noch. Er schnüffelte. Wahrscheinlich witterte er den Rauch der gelöschten Unschlittkerze. Dann drehte er den Kopf ...«

In dem Dörfchen Seedorf am Diamantenen See im Königreich Tolerland breitet sich eine unheimliche Krankheit aus. Der Heiler des Dorfes ist ratlos. Als die ersten Toten zu beklagen sind, beschließt der Dorfrat, nach der Kräuterfrau Krauta zu schicken. Der Kundschafter Bardo macht sich auf den Weg zu dieser geheimnisvollen Heilerin, die mehrere Tagesreisen entfernt in einer Hütte mitten im Wald zu Hause ist. Er ahnt nicht, dass er sein Heimatdorf so bald nicht wiedersehen wird …

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Leseprobe:
Das Wasser war so klar, dass Bardo bis auf den Grund des Flusses sehen konnte, und wenn er gewollt hätte, hätte er sich mühelos einen der vielen Fische greifen können, die seit Stunden sein Boot eskortierten. Doch Bardo hatte gerade keinen Sinn für Fische. Er musste unbedingt vor Einsetzen der Dämmerung sein Ziel erreichen, weil er befürchtete, es im Dunkeln nicht zu finden. Unermüdlich tauchte er das Stechpaddel in das silbern glitzernde Nass. Er war den Göttern dankbar, dass sie es so eingerichtet hatten, dass er die Sonne jetzt im Rücken hatte, so dass sie ihn nicht blendete. Er durfte auf keinen Fall die Stelle verfehlen, an der er an Land musste, sonst könnte er zu viel Zeit verlieren.
Seit den frühen Morgenstunden paddelte er schon gegen die Strömung an; er hatte sich keine Pause gestattet und sein Proviantpaket kaum angetastet. Hin und wieder gönnte er sich einen Schluck aus dem Wasserschlauch. Wegen der großen Hitze hatte er die Lederrüstung abgelegt und saß seitdem nackt in seinem schlanken Kanu. Das war zwar nicht ungefährlich, so völlig ungeschützt, aber er rechnete nicht damit, angegriffen zu werden. Immerhin herrschte seit zehn Jahren Frieden in diesem Teil von Avandur. Gefahr ging allenfalls von wilden Tieren aus, die ihm hier mitten auf dem Fluss aber nichts anhaben konnten. Und dass sich in dieser Gegend Bösewichter herumtrieben, konnte er sich nicht vorstellen, mitten in der Wildnis, weit entfernt von jeglicher Zivilisation. Obwohl er zum ersten Mal in diesem Landstrich unterwegs war und sich deshalb nicht sicher sein konnte.

Bardo suchte mit seinen scharfen Augen das rechte Flussufer ab. Er musste fast am Ziel sein. Der Pfad war zwar angeblich deutlich gekennzeichnet, darauf wollte er sich jedoch lieber nicht verlassen. Der Wald wurde dichter, was ihm nicht gefiel, denn wenn es doch jemand auf ihn abgesehen haben sollte, konnte derjenige sich gut verbergen und überraschend angreifen. Aber wer sollte es auf ihn abgesehen haben.
Die Sonne stand schon sehr tief, als er das große Holzschild entdeckte. Es hing an einem Ast und trug in großen schwarzen Lettern die Aufschrift »AM ENDE DIESES PFADES WOHNT KRAUTA – MIT IHR IST NICHT GUT KIRSCHEN ESSEN, WENN SIE OHNE TRIFTIGEN GRUND GESTÖRT WIRD«. Nun – Bardo war sich sicher, einen triftigen Grund zu haben, steuerte ans Ufer, sprang aus dem Boot, zog es an Land und legte seine Kleidung an. Dann schulterte er seinen Rucksack und seinen Bogen und folgte dem unwegsamen Pfad in den Wald hinein. Wenn die Ausführungen seines Vaters stimmten, würde er etwa in einer halben Stunde sein Ziel erreichen, was auch dringend nötig war, denn es begann bereits zu dämmern.
Als er die windschiefe Behausung auf der kleinen Lichtung erblickte, beschlich ihn ein mulmiges Gefühl. Er war sich nicht mehr sicher, dass Krauta seine Ansicht teilen würde bezüglich des triftigen Grundes. Er ging vorsichtig auf die Eingangstür der Blockhütte zu, die größer war als es ihm zunächst vorgekommen war. Gerade wollte er anklopfen, als er von drinnen eine Stimme vernahm.
»Wer immer meinen Frieden stört, er möge reinkommen! Ich habe ihn längst gehört.« Es war eine tiefe, weiche, weibliche Stimme. Er öffnete die Tür und trat ein.
In der Mitte des Raumes befand sich eine Feuerstelle, über der ein großer kupferner Kessel von den Flammen umzüngelt wurde. Es duftete köstlich, und Bardo wurde sich bewusst, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. An einem Tisch an der rechten Wand saß eine mittelgroße Frau mittleren Alters mit langen braunen Haaren in einem weißen Leinenkleid und hackte mit einem großen Messer Kräuter.
Sie blickte von ihrer Arbeit auf und betrachtete den Neuankömmling sorgfältig von Kopf bis Fuß, bevor sie ihn ansprach: »Ah – ein kräftiger junger Mann. Komm doch näher, auf so einen wie dich warte ich schon lange. Hast du Hunger? Klar hast du Hunger, einen kleinen Augenblick noch, das Wildschweinragout ist gleich fertig. Ich muss nur noch die Kräuter dazutun und einmal kurz aufkochen lassen, mach es dir so lange bequem.«
»Ja«, war das Einzige, was er herausbrachte. Er stand da wie vom Donner gerührt ob der Wohlgeformtheit ihres Körpers, des strahlenden Leuchtens ihrer Augen und ihres wunderschönen, freundlichen Gesichts. Der nette Empfang passte überhaupt nicht zu dem warnenden Schild am Anfang des Weges. War er im richtigen Haus? Während sie weiter hackte, schaute sie ihn auffordernd an, was ihn veranlasste, sich zusammenzureißen und sich zu ihr an den Tisch zu setzen.
»Ich bin Krauta, Heilerin und Kräuterhexe. Mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Ich heiße Bardo. Mein Dorf schickt mich, weil wir Eure Hilfe brauchen. Bei uns ...«
»Eins nach dem anderen«, unterbrach sie ihn, »nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Erst wird gegessen, und dann sehen wir weiter.«
Sie beendete das Hacken, ging zur Feuerstelle und warf die Kräuter in den Kessel. Mit einem großen Holzlöffel rührte sie um und wandte sich Bardo zu.

Im Kindle-Shop: Avandur: Reise in die Vogelfreiheit

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13. Dezember 2016

'Ostfriesland Mission: Schmutzige Rache' von Harald H. Risius

Es geschehen seltsame Verbrechen in Ostfriesland und niemand hat eine Erklärung dafür. Der Täter scheint der Polizei immer einen Schritt voraus zu sein und versteht es, seine Spuren zu verwischen. Die Ermittler Susi Wildtfang und Helmut Brunner sind hilflos und müssen sich nicht nur die Schelte der Medien, sondern auch Vorwürfe ihres höchsten Vorgesetzten gefallen lassen. Der vermutet sogar, dass der Täter Helfer in den Reihen der Polizei hat. Selbst dem LKA können sie nicht mehr trauen.

Brunner ist diesem Druck nicht gewachsen, er will nur noch eines – weg von Ostfriesland! Aber seine Familie ist dagegen, seine Lage erscheint aussichtslos.

Susi Wildtfang ist überzeugt, dass es einen roten Faden gibt, der alle diese Verbrechen miteinander verbindet – aber sie erkennt ihn nicht.

Schließlich gibt Hinni Boomgarden den Ermittlern einen entscheidenden Tipp, als er über zwei seltsame Gäste spricht, die in seinem Hotel logieren ...

Ein spannender Thriller über die dunkle Seite Ostfrieslands mit einem unerwarteten, überraschenden Ende.

Dieses Buch ist die Fortsetzung von Ostfriesland Connection, lässt sich aber auch unabhängig davon lesen.

Gleich lesen: Ostfriesland Mission: Schmutzige Rache (Sail & Crime 8)

Leseprobe:
Der junge Mann, der an der rot lackierten Wohnungstür im dritten Stock des Mietshauses klingelt, ist in einem schlimmen Zustand. Sein Haar hängt strähnig über die Stirn, sein Drei-Tage-Bart ungepflegt und struppig. So als ob er sich mehrere Tage weder gewaschen, gekämmt noch rasiert hätte. Die Augen sind eingefallen, er sieht übernächtigt aus, seine graue Gesichtsfarbe verstärkt diesen Eindruck. Die Jeans und der dunkle Kapuzenpullover sind zerknittert und verdreckt und passen nicht zur aktuellen Hitzewelle. Seine Schnürstiefel sind schlammverschmiert. Jeder muss ihn für einen Obdachlosen halten oder für einen auf der Flucht.
Kraftlos lehnt er sich an den Türrahmen und schaut gehetzt hinter sich, als hätte er Verfolger zu fürchten.
Drei Stockwerke über ihm lassen sich Schritte auf der Treppe vernehmen, der Mann atmet auf, als in diesem Moment die Tür geöffnet wird. Eine zierliche, junge Frau starrt ihn zunächst ungläubig an, dann öffnet sich ihr Mund, als wollte sie zu einem Schrei ansetzen.
»Lass mich rein«, sagt der Mann schnell. Er drängt in die Wohnung, drückt die Tür hinter sich zu und lehnt sich schwer atmend mit dem Rücken dagegen.
»Wo kommst du her?« Bevor die Frau den Namen ihres unerwarteten Besuchers aussprechen kann, legt er ihr seine rechte Hand auf den Mund.
»Sag es nicht, sprich meinen Namen nicht aus. Ich will meinen Namen nie mehr hören. Ich habe es vermasselt, ich sollte nicht mehr leben.«
»Aber nun beruhige dich doch erst einmal. Komm herein, setz dich und dann erzählst du mir alles. Bist du auf der Flucht? Verfolgt dich jemand? Oder bist du einfach betrunken oder bekifft?«
Der Mann antwortet nicht, lässt sich aber widerstandslos durch den schmalen Flur in die Wohnung ziehen.
»Dort ist Platz«, sagt die Frau und nimmt einen Stapel Papiere und CD-Hüllen aus einer Sofaecke. Außer dem Stuhl vor einem großen Arbeitstisch, auf dem sich weitere Papiere, Bücher, Bildschirme, Tastaturen und andere elektronische Geräte ohne erkennbare Ordnung stapeln, wäre auch kein anderer Sitzplatz in der Wohnung frei gewesen.
Der junge Mann lässt sich dankbar auf das Sofa fallen, dann erst schaut er die junge Frau genauer an: Lucie ist immer noch klein und zierlich, aber ihre Figur, die durch die Hotpants und das Top ohne BH kaum verborgen wird, ist sportlicher und drahtiger geworden. Das Muskelspiel ihrer Oberarme lässt vermuten, dass sie einen Kampfsport betreibt und Kraft hat. Sonst hat sie sich in den letzten Jahren, seitdem sie gemeinsam auf der Uni waren, kaum verändert. Auch ihre Frisur ist unverändert, blond und sehr kurz geschnitten.
Sein Blick wandert durch die Wohnung.
»Schau dich nur um«, fordert Lucie ihn auf und macht eine einladende Handbewegung. »Mein Hacker-Space! Ich hole dir ein Glas Wasser.«
Ihre Wohnung, ein Apartment, wie es von vielen Studenten in dieser Stadt bewohnt wird, ist eine Mischung aus Wohnzimmer mit Schlafcouch, Softwarelabor, Lötwerkstatt und Künstleratelier. Ein Spielplatz für Freaks, die technische Geräte demontieren und wieder zusammenbauen, bis sie für ihre Zwecke geeignet sind, und wenig Wert auf Schöner Wohnen legen.
Lucie ist Computerfreak und Bloggerin. Sie ist Mitglied im Chaos Computer Club und als hemmungslose Hackerin bekannt und berüchtigt. Ihr geht es dort allerdings viel zu brav zu, sie braucht den Nervenkitzel und ihren täglichen Adrenalinstoß.
Zu ihrem Vergnügen manipuliert sie Webseiten von Firmen, die ihrer Meinung nach von den Kunden zu hohe Preise verlangen. Das macht sie, ohne sich persönlich bereichern zu wollen, sondern einfach - weil sie es kann.
Kürzlich hat sie auf der Homepage einer großen Supermarktkette die wöchentlichen Sonderangebote nochmals um die Hälfte verbilligt und damit große Verwirrung bei Kunden und Geschäftsleitung ausgelöst. Natürlich hat die Firma Strafanzeige gestellt - übrigens nicht die erste -, aber keiner weiß so genau, gegen wen und wohin die gerichtet werden kann. Lucie ist eine Meisterin des Spurenverwischens im Internet.
Sie ist siebenundzwanzig, Doktorandin der theoretischen Informatik in der Uni Oldenburg, und im Internet meistens mit dem Kampfnamen Xenotrac unterwegs.
Sie reicht ihrem Besucher ein Glas Wasser. »Trink! Und dann erzähl mir, warum du hier bist! Bist du bei deinen Eltern rausgeflogen? Oder aus der Uni?«
Müde stützt der junge Mann den Kopf auf seine Hände und verbirgt sein Gesicht. Undeutlich nuschelt er: »Viel schlimmer. Ich habe jemanden umgebracht!«
Lucie lacht laut auf. »Guter Witz! Und was soll ich nun tun? Die Leiche wieder zum Leben erwecken?«
»Nein, aber du musst mir helfen, ihren Tod zu rächen, bitte. Nur du kannst das!«

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12. Dezember 2016

'Urlaub für Fortgeschrittene' von Maria Resco

Katrin hat den lukrativen Auftrag einer Detektei in Aussicht: Sie soll den Italiener Roberto Morone der Untreue überführen, Urlaub am Gardasee inklusive. Anfängliche Bedenken wirft sie schnell über Bord, Geld und Abenteuer locken sie. Dumm nur, dass Gatte Paul, der Reisemuffel, ihren Plan durchkreuzt und sie begleitet. Und nicht nur er kommt ihr in die Quere.

Für Katrin ist klar: Niemand darf von dem pikanten Job als Lockvogel erfahren, immerhin hat sie einen Ruf als treusorgende Ehefrau und Mutter zu verlieren. Sie aber ist sich ihrer Sache sicher, schließlich kennt sie ihre Grenzen, etwas flirten, etwas knutschen, dann ist Schluss. Ihre Prinzipien geraten mächtig ins Wanken, als sie dem attraktiven Roberto gegenübersteht.

Gleich lesen: Urlaub für Fortgeschrittene

Leseprobe:
Spontaneität war nicht sein Ding! Er sollte es einfach lassen, spontan sein zu wollen. Drei Jahre lang hatte er es geschickt vermieden, einen Supermarkt von innen zu betreten – jetzt hatte es ihn doch erwischt. Und zwar nur, weil er spontan gewesen war. Er könnte sich in den Hintern beißen. Welcher Teufel hatte ihn geritten, die Nachbarn zum Grillen einzuladen, einfach so, aus einer Laune heraus? Er kannte Katrin doch. Besuch von den Nachbarn! Da musste vorher das ganze Haus blankgewienert werden. Und an wem blieb dann der Einkauf hängen? Wenn er schon mal spontan war! Er besaß wirklich viele nennenswerte Eigenschaften, Spontaneität gehörte nicht dazu. Das sollte er sich hinter die Ohren schreiben. Wie kam er jetzt aus dieser Nummer wieder raus?
Der Gedanke an seinen ersten und letzten Großeinkauf in einem dieser Megamärkte trieb Paul Schubert noch heute den Schweiß auf die Stirn. Er steht an der Kasse und sein Geld reicht nicht! Und das an einem Freitagnachmittag, wo sich die Leute in Schlangen vor den Kassen tummeln. Kopfschütteln und böse Mienen hinter ihm. »Sein Geld reicht nicht«, hörte er sie schimpfen, und »Wieder ein Idiot ohne Karte!«
Jawohl! Er lehnte die Dinger ab. Aus Prinzip. Und er stand dazu. Immer noch. Im Prinzip.
Frau Becker, die Kassiererin – an den Namen konnte er sich bis heute erinnern – die gute Frau Becker musste auf die Storno-Tante warten. Sie selbst war nicht befugt zu stornieren. Das verlängerte die Wartezeit um einige lange Minuten. Hinter ihm eine lauter werdende Protestwelle. Manch einer wechselte fluchend in die Nachbarschlange. Mit einem entschuldigenden Dauergrinsen hatte Paul versucht, den Anschein von Coolness zu wahren, tatsächlich aber durchlebte er in diesen Minuten das Trauma seines Lebens, während Frau Becker ein Teil nach dem anderen über den Scanner zog, Kartoffeln, Brokkoli, Käse, Sahne. Sie stornierte sein ganzes schönes Abendessen.
Nun, es war ja nicht so, dass er nicht lernfähig wäre. Wenn Katrin das auch immer wieder gern bezweifelte.
»Da ist die Liste«, brummte sie, als er in die Küche kam. Nicht eines Blickes würdigte sie ihn. Wie besessen schrubbte sie die Fliesen über der Spüle.
Paul überflog die elend lange Einkaufsliste. Himmel Herrgott! Wer sollte denn das alles essen? Sie tat ja gerade so, als würden sie einen Staatsbesuch erwarten. Es waren doch nur die Nachbarn!
»Hast ja recht«, lenkte er versöhnlich ein, »wirklich, ich verstehe, dass du sauer bist. Ich lade die Hollmanns ein, ohne dich zu fragen, und halse dir damit einen Haufen Arbeit auf, während ich gemütlich durch den Supermarkt tingle. Also meinetwegen können wir …«
Katrin stemmte beide Fäuste in die Hüften und warf ihm einen Blick zu, der Tote hätte wecken können.
Okay, er hatte verstanden. Sie wollte nicht tauschen. Sie war sauer, sowas von sauer. Muffelig kramte er in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie und nahm die EC-Karte heraus. Notgedrungen. Das bisschen Bargeld, das er noch bei sich hatte, würde für den Mammuteinkauf kaum ausreichen. Während er die Karte verstaute, stellte er sich vor, wie er den Supermarkt betrat und jene beiden älteren Damen, die damals hinter ihm gestanden hatten, seinen Weg kreuzten, ihn mit fragendem Blick musterten, als würden sie krampfhaft überlegen, wo sie ihn schon mal gesehen hatten, und wie er dann an ihren strahlenden Gesichtern ablesen konnte, dass es ihnen gerade eingefallen war. Das ist doch der Typ von damals, der, bei dem das Geld nicht gereicht hat! – Stimmt! Freitag war’s, weiß ich noch genau, Freitag, fünfzehnter August, Viertel vor zwei, um genau zu sein. Mein Karl hatte schlecht geschlafen die Nacht, dreimal musste er raus, die Blase, weißt du … Ein unbehagliches Gefühl machte sich in Paul breit. Alte Damen konnten sich bisweilen minutiös an die unwichtigsten Details erinnern. Das wusste er von seiner Mutter. »Wie ist die PIN?«
»6-5-6-4«, zischte Katrin, die jetzt die Spüle blank wienerte, als würde heute Abend ein Preis für die sauberste Spüle verliehen werden.
»6-5-6-4.« In Gedanken sortierte er die Zahlenreihe nach einer logischen Ordnung, einmal die 4, einmal die 5, zweimal die 6 – so war es doch viel leichter zu merken. Dann machte er sich auf die Socken.

Im Kindle-Shop: Urlaub für Fortgeschrittene

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8. Dezember 2016

'Wer Mondstaub sieht' von Eva-Maria Farohi

Amina und Nicolau verbringen alljährlich ihre Sommerferien zusammen auf Mallorca. Irgendwann wird aus der Kinderfreundschaft mehr – doch dann fährt Amina für ein letztes Schuljahr nach Deutschland zurück und kommt nicht mehr wieder.

Jahre später, am fünfundneunzigsten Geburtstag von Nicolaus Großonkel Miguel Ferrer, feiert man ein rauschendes Fest. Auch Amina, die in Miguel einen Großvaterersatz sieht, ist überraschend angereist, nicht zuletzt um mit ihren Jugenderinnerungen abzuschließen, denn Amina plant zu heiraten.

Miguel erkennt, dass sich an Nicolaus Gefühlen für die Jugendfreundin nichts geändert hat, und beginnt, ihm seine eigene Lebensgeschichte zu erzählen - von Catalina, seiner großen Liebe während der Zeit, als der Krieg auch die Insel erreichte …

Ein Familienepos vor der gewaltigen Kulisse Mallorcas jetzt und während der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs. Eine Geschichte über Verantwortung und Treue – und nicht zuletzt die Geschichte einer Liebe, die alles überwindet.

Gleich lesen: Wer Mondstaub sieht

Leseprobe:
Miguel Ferrer saß auf seinem Lieblingsstuhl unter dem Vordach des steinernen Fincagebäudes, schaukelte und wartete. Worauf, wusste er selbst nicht genau. Doch er ahnte es.
Seit er vor wenigen Monaten seinen fünfundneunzigsten Geburtstag gefeiert hatte, war ihm das Warten zur Gewohnheit geworden.
An jenem besonderen Tag hatten ihm alle gratuliert. Sogar der Bürgermeister, obwohl sie einander nicht besonders gut leiden mochten.
Letzteres war zu einem guten Teil darin begründet, dass der Bürgermeister gegen den Bau der Eisenbahnlinie gestimmt hatte. Das Projekt war inzwischen zwar wegen Geldmangels eingestellt worden, dennoch konnte ihm Miguel dieses Vorgehen nicht verzeihen. Auch wenn er insgeheim wusste, dass er damit nicht ganz richtig lag, gab er dem Bürgermeister die Schuld am Scheitern des Unternehmens.
An seinem Geburtstag war die gesamte Familie erschienen. Zusammen zweihundertsechsundzwanzig Personen, darunter auch mehrere Säuglinge.
Miguel wusste von jedem Einzelnen den Vornamen. Darauf war er stolz.
Das Fest zu seinem Ehrentag hatte ihm, der überhaupt gern feierte, besonders gut gefallen.
Natürlich war Nicolau auch dabei gewesen. Er hatte bereits die Nacht bei Miguel verbracht, weil er wusste, wie gern sein Onkel den Sonnenaufgang von der Terrasse aus beobachtete, und ihm dabei Gesellschaft geleistet.
Nicolau war von jeher der Lieblings-Großneffe gewesen, mehr noch: Er war Miguel so nah wie ein eigener Sohn. Jener Sohn, den er nie hatte haben dürfen.
»Mondlicht ist etwas für die Jungen, in meinem Alter zählen nur noch die Sonnenaufgänge«, pflegte Miguel zu sagen.
Und Nicolau war bei ihm sitzen geblieben. Hatte fürsorglich eine Decke über seine Beine gebreitet – gegen die Kälte, denn immerhin war es bereits Anfang November – und ihnen beiden eine große Tasse mit heißem Kaffee gebracht.
Sie hatten nicht viel gesprochen, während sie gemeinsam beobachteten, wie das helle Licht der Dämmerung die Schatten der Nacht vertrieb, und dann ebenso schweigend dem roten Ball zugesehen, der sich seinen Weg durch die grauen Wolken am Horizont bahnte. Es bedurfte keiner Worte, um einander nahe zu sein. Das Band zwischen ihnen war eng geknüpft und überaus haltbar. Niemandem sonst gewährte Nicolau so tiefe Einblicke in sein Inneres, nicht einmal seinem eigenen Vater.
Schon aus diesem Grund war es für alle Familienmitglieder klar gewesen, dass Nicolau einmal Miguels Erbe sein würde – und damit der Padron über ein Stück Land, das so groß war, dass man seine Grenzen an einem einzigen Tag nur schwer abschreiten konnte. Es war schon immer Familienbesitz gewesen, hieß es. Und Nicolau hatte nie darüber nachgedacht, es war ein Erbe, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Einen vom Schicksal vorbestimmten Zeitraum lang würde er der Eigentümer sein dürfen.
Auf dem Papier gehörte es ihm bereits seit Jahren, denn Miguel hatte an seinem neunzigsten Geburtstag darauf bestanden, die erforderlichen Urkunden zu unterzeichnen. Dennoch war nach wie vor Miguel der Padron und würde es auch bleiben, bis zum Tag seines Todes.
Höher und höher stieg die Sonne, wechselte ihre Farbe, wurde leuchtender – bis sie so hell erstrahlte, dass man ihr nicht länger mit den Augen folgen konnte.
Dafür wärmten die Strahlen jetzt die Gesichter der beiden, die nebeneinander auf der Terrasse ausharrten, und füllten alles ringsum mit dem neuen Leben des anbrechenden Tages.
Miguel griff nach Nicolaus Hand, worauf dieser ihm einen überraschten Blick zuwarf. Für gewöhnlich war es nicht Miguels Art, Gefühle in körperlichen Gesten auszudrücken, doch obwohl er sicher sein konnte, dass Nicolau über die Tiefe seiner Zuneigung genau Bescheid wusste, schien er in letzter Zeit besonders bedacht zu sein, daran keinen Zweifel aufkommen zu lassen.
»Wünsch mir, dass mein letzter Wunsch in Erfüllung geht«, sagte er daher auch jetzt zu Nicolau.
»Ich wünsche es dir«, antwortete Nicolau mit ruhiger Stimme, ehe er versuchte, Miguels Blick einzufangen. »Egal, wie viele es sind, alle deine Wünsche sollen sich erfüllen.«
Miguel schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »ich habe nur noch diesen einen Wunsch.«
»Und was genau wünschst du dir?«, fragte Nicolau, während er weiterhin die Hand des alten Mannes in seiner hielt.
Miguel lächelte. Es war ein stilles, beinahe trauriges Lächeln.
Ich möchte, dass du alles bekommst«, sagte er.
Nicolau, der zunächst glaubte, Miguel würde von dem Land und anderen Besitztümern reden, horchte auf.
»Was meinst du damit? Was soll ich denn noch bekommen?«, fragte er, und die Ratlosigkeit, die er empfand, schwang in seiner Stimme mit.
»Alles, was wichtig ist«, sagte Miguel. »Das, worauf es im Leben ankommt.«
Nicolau sah ihn weiter unbeirrt an. Dabei bildete sich zwischen seinen Augenbrauen eine Falte, und Miguel konnte beobachten, wie er anschließend auch noch die Stirn runzelte, ehe sich seine Pupillen plötzlich verengten.
Für den alten, lebenserfahrenen Mann war es nicht schwer, den Augenblick zu erkennen, in dem Nicolau den Sinn hinter den Worten begriff, denn seine Augenlider zuckten ein wenig, ehe der Blick wie von selbst ins Leere ging, um sich an irgendeinem Punkt in der Ferne zu verlieren.
Kurz blitzte etwas wie Schmerz in den dunklen Augen auf, verwandelte sich gleich darauf wieder in den beinahe melancholischen Ausdruck, der Nicolau seit Jahren schon zu eigen war und den man, wenn man ihn nicht so gut kannte, wie Miguel es tat, leicht für eine gewisse Schwerfälligkeit hätte halten können.
Dennoch ging Nicolaus Atem jetzt ein wenig schneller, und die Hand, mit der er sich in das volle schwarze Haar fasste, zitterte.
Einmal mehr stellte Miguel fest, wie ähnlich ihm sein Großneffe war. Genau so hatte er selbst im Alter von achtundzwanzig Jahren ausgesehen: groß gewachsen, mit ebenmäßigen Zügen und einer olivfarbenen straffen Haut – kräftig von Statur, ohne füllig zu sein, mit Muskeln, die von der Arbeit auf dem Land gestählt waren.
Selbst im Charakter waren sie einander ähnlich. Obwohl beide kein Problem damit hatten, sich überall durchzusetzen, waren sie doch empfindsam.
Wie Miguel war Nicolau ein sanfter Mann, und so manche Frau hätte ihn gerne für längere Zeit – wenn nicht gar für immer – behalten, obwohl er stets betonte, an keiner dauerhaften Beziehung interessiert zu sein.
Die Hände in die Hosentaschen vergraben, stand Nicolau jetzt auf und gab vor, der aufgehenden Sonne noch ein wenig zusehen zu wollen.
Längere Zeit sprachen sie beide nichts und Miguel widmete sich seinem Kaffee.
Bis zu dem Moment, als es hupte, und ein rotes Auto inmitten einer Wolke aus staubiger Erde über den Zufahrtsweg bis vor die Terrasse rollte.
Während Nicolau gebannt auf den Wagen starrte, lächelte Miguel still vor sich hin.
Die Tür auf der Fahrerseite öffnete sich, und ein Paar Frauenbeine tauchte auf, in flachen Sandalen mit langen Riemchen, die einander überkreuzend um die gazellenschlanken Fesseln und ebenso schlanken Waden gebunden waren.
Nicolau nahm die Hände aus den Hosentaschen, während er beobachtete, wie den Sandalen zunächst der gerüschte Saum eines weißen Kleides folgte, in dem – wie man gleich darauf zu sehen bekam – der vollendete Körper einer jungen Frau steckte, die sich gerade überaus elegant aus dem winzigen Auto schälte.
Ihre blonden Haare, scheinbar achtlos zu einem Pferdeschwanz gebunden, reichten ihr fast bis zur Hüfte und glänzten wie Gold in der Sonne.
Das Gesicht, so ebenmäßig, dass man es anstarren musste, wurde von dem hellen Augenpaar noch überstrahlt, das mit dem kirschroten Mund um die Wette lachte.
»Miguel«, rief sie. Ihre weißen Zähne blitzten, während sie eine riesengroße achteckige Schachtel balancierte, »Feliz cumple y Molts d’Anys!«
Sie kam die Stufen heraufgestürmt, drückte Nicolau – an dem sie ohne innezuhalten vorbeilief – die Schachtel in die Hände, stürzte auf Miguel zu und warf sich in dessen Arme.
»Alles Gute zum Geburtstag«, redete sie übergangslos weiter, »ich bin so glücklich, dass ich heute bei dir sein kann. Du bist der liebste und beste Mann in meinem ganzen Leben. Und ich wünsche mir, dass du noch viele Jahre in Gesundheit mit uns hier verbringen kannst.«

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7. Dezember 2016

'Sein anderes Ich' von Janette John

»Man trifft sich im Leben immer zweimal. Vielleicht am Anfang. Vielleicht aber auch am Ende.« Janette John

Was denkst DU?
Wie würde DEIN Leben wohl verlaufen,
ohne das Wissen um DEINE Eltern?

Freiburg im Breisgau 1988. Anlässlich ihrer bevorstehenden Sommerferien feiert eine Gruppe von Teenagern ausgelassen eine Party, während hinter verschlossenen Türen ein fünfzehnjähriges Mädchen brutal vergewaltigt wird. Sie wird schwanger, verschwindet spurlos und taucht ein Jahr später wieder auf.

Konstanz heute. Eine Hitzewelle ergießt sich über die Stadt. Freibäder platzen aus allen Nähten. Eisdielen haben Hochkonjunktur. Doch der Sommer ist trügerisch. In einem abgelegenen Waldstück wird der nackte Körper einer jungen Prostituierten gefunden. Ihr Gesicht ist entstellt und von Maden zerfressen. In den Wochen danach werden in der Nähe des Fundorts zwei weitere Leichen gefunden, wieder sind sie nackt.

Das Konstanzer Kripoteam um Daniel Selzer macht sich an die Aufklärung der Morde, die zwar erschüttern, zunächst aber keine Erwähnung in den Medien finden. Bleibt die Frage, wieso hat sich der Täter so grausam an den Frauen vergangen? Und was hat es mit den Zigarettenrückständen sowie Hundehaaren an den Toten auf sich?

Sein anderes Ich – wenn die Vergangenheit dunkle Schatten wirft.

Alle Bücher der Reihe Kripo Bodensee von Janette John können unabhängig voneinander gelesen werden.

Gleich lesen: Sein anderes Ich (Kripo Bodensee 3)

Leseprobe:
Selzer war ein paar Minuten gelaufen und hatte sich in der Parkanlage des Krankenhauses auf eine Bank gesetzt. Plötzlich packte ihn jemand von hinten an der rechten Schulter und ließ ihn kurz zusammenzucken.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte Selzer dem Mann, der sich kurz danach neben ihn setzte.
»Hätte nicht gedacht, dass wir uns hier wiedersehen würden«, antwortete der andere und schielte zu Selzer. »Du warst damals nach der Sache mit Louisa wie vom Erdboden verschluckt.«
Selzer wirkte unruhig.
»Ja, ich musste aus London weg. Sie hatte sich für dich entschieden. Also was sollte ich da noch?«, fragte Selzer melancholisch. »Und, seid ihr noch zusammen?« Seine Stimme klang herausfordernd.
Der andere entnahm der Tasche seines kurzärmeligen Hemdes eine Zigarettenschachtel und zündete eine Zigarette an. Genießerisch zog er an ihr und antwortete knapp: »Nein.«
Mehr brauchte Selzer nicht zu wissen.
»Also, warum willst du mich sprechen?«, fragte der andere.
Selzer überreichte ihm das Foto von Janine Maurer. »Wer hat das aufgenommen?«
Der Unbekannte nahm es an sich, blickte auf das Bild und zog genüsslich an seiner Zigarette.
»Ich! Ich habe sie fotografiert.«
»Und warum?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Wir haben das Foto von einem Verdächtigen erhalten. Wieso hatte ausgerechnet er es, wenn keiner der Presseleute fotografieren durfte?« Selzer starrte den Mann aus dem Augenwinkel an.
»Woher soll ich das wissen?«, echauffierte sich der andere.
»Wenn du meine Ermittlungen behinderst, lasse ich dich verhaften«, meinte Selzer streng.
Dem Fremden schien die Drohung nichts auszumachen, er blieb ruhig und schaute geradeaus ins Leere. »Glaubst du wirklich, ich würde deine Ermittlungen behindern? Wäre ich sonst Rechtsmediziner geworden?«
Selzer konnte dem nichts entgegensetzen und fasste noch einmal nach: »Also, für wen hast du das Foto gemacht?«
»Frag deinen Chef!«
Daniel Selzer drehte sich seitlich zu dem Arzt, der kein anderer war als Ron Hendrick und schaute ihn ungläubig an.
»Du meinst Amans?«
Hendrick nickte, stand auf und ließ seine Zigarette zu Boden fallen. Nachdem er sie mit dem Schuh ausgedrückt hatte, verabschiedete er sich. »Von mir weißt du das nicht.«
Selzer blieb noch eine Weile sitzen und überlegte, wozu Amans das Foto hatte machen lassen und wie es zu Ramon gelangt sein könnte. Gedankenversunken lief er langsam davon.

Im Kindle-Shop: Sein anderes Ich (Kripo Bodensee 3)

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6. Dezember 2016

'Urlaub für Anfänger' von Maria Resco

Die neuen Nachbarn bringen es an den Tag: Katrins unerfülltes Dasein an der Seite ihres Gatten Paul. Während die Hollmanns mit Hab und Gut und teuren Reisen protzen, radelt sie mit angezogener Handbremse durch die letzten Jahre ihrer Ehe.

Als Gaby Hollmann ihr zu allem Übel eine Putzstelle anbietet, platzt ihr der Kragen. Der groben Fehleinschätzung ihrer Person muss sie dringend etwas entgegensetzen. Sie erfindet eine exklusive Reise in das ferne Kenia und behauptet – damit der Schwindel nicht auffliegt – einen Tag nach den Nachbarn abzureisen.

Doch auch bei den Hollmann ist nicht alles Gold was glänzt. Warum sind die noch zu Hause? Warum sitzen die nicht längst im Flieger nach Miami? Was haben die Snobs zu verbergen? Einen Plan B hat Katrin nicht auf Lager, also ist jetzt Handeln angesagt, und zwar flott. Ein turbulentes nachbarschaftliches Versteckspiel beginnt.

Gleich lesen: Urlaub für Anfänger

Leseprobe:
»Was kuckst du denn da am helllichten Tag?« Paul wunderte sich, als er vom Garten ins Wohnzimmer spazierte.
»Äh, nix … wieso?«, stotterte Katrin. Warum fühlte sie sich jetzt ertappt? Sie hatte doch nur den Fernseher eingeschaltet, und zwar gerade eben erst. Gleich würde er sie an ihre Vorbildfunktion als Mutter erinnern, weil sie ausnahmsweise mal am Nachmittag vor dem Fernseher saß, wo doch draußen die Sonne schien und im Garten die herrliche Natur wartete – und jede Menge Arbeit.
Aber nichts dergleichen entwich ihm. Aus unerfindlichem Grund hatte er heute gute Laune.
»Shopping-Queen?«, lachte er und stierte belustigt auf den Bildschirm. Ja, sie guckte Shopping-Queen! Na und? Sie fand es interessant. Schon die Idee! Vielleicht sollte sie sich auch mal bewerben. Fünf Hunderter, vier Stunden, ein Motto. Das würde sie hinkriegen. Sie wusste durchaus, was ihr stand. Und das konnte man längst nicht von jeder Kandidatin behaupten. Gespannt haftete Katrins Blick auf dem Bildschirm. Die kauft doch jetzt nicht allen Ernstes dieses viel zu enge Top! Da quillt doch oben alles raus! Das grüne wäre perfekt gewesen. Also wirklich!
»Hey, Mom. Du guckst Shopping-Queen? Willst dich wohl bewerben.« Amüsiert stürmte Lena zusammen mit Pia ins Wohnzimmer.
»Quatsch! Ich habe nur mal …«
»Hey, das wär doch voll lustig. Mom im Fernsehen!«
Verärgert schaltete Katrin den Fernseher aus. War es denn in diesem Haus unmöglich, irgendwas zu tun, ohne gleich durchschaut zu werden?
»Papa hat gesagt, wir dürfen heute Abend Pizza essen und einen Film dabei kucken«, verkündete Pia aufgeregt und kniete sich vor das Regal mit den DVDs.
Mit großen Augen sah Katrin ihren Gatten an. Essen vor dem Fernseher? Das gab es nur bei der Fußball-WM.
»Ja, das habe ich gesagt«, strahlte Paul gönnerhaft. »Und wir beide, Mausi, gehen heute Abend aus. Zieh dir also was Nettes an!«
»Wir gehen aus? Wohin denn?« Katrin blickte ihn argwöhnisch an.
»Lass dir ordentlich Platz im Magen. Mehr wird nicht verraten.«
»Und die Kinder?«
»Alles geregelt.« Ein siegesgewisses Grinsen war auf Pauls Gesicht getreten. »Um acht!«, sagte er, griff sich einen Apfel aus der Obstschale und entschwand wieder in den Garten.
Sprachlos blickte Katrin ihm hinterher. Was war denn nun los? Hatte sie irgendetwas verpasst? Wenn Paul, der Geizhals, sich darüber freute, auswärts essen zu gehen, dann war etwas faul, oberfaul. Mit anderen Worten: Es war äußerste Skepsis angebracht.
»Sag mal, Lena, hat Papa dir gesagt, wohin er mit mir gehen will?«
»Sorry, Mom, wir dürfen nichts verraten. Wir haben es versprochen.«
»Ist eine Überraschung«, erklärte Pia.
»Genau, Mom, jetzt freu dich doch einfach mal!«, ergänzte Lena.
Die Mädchen hatten Recht. Immer dieses Misstrauen. Katrin warf ihre Vorbehalte über Bord. Sie ging in die Küche, räumte beschwingt die Spülmaschine aus und verdrängte all die guten Gründe, die ihren Zweifeln Berechtigung hätten verleihen können. Stattdessen sann sie nach, wohin Paul sie wohl ausführen würde. Sicher zu dem neuen Italiener in der Altstadt, dem Casa Nuova. Er wusste, dass sie die Italienische Küche liebte. Vor allem aber liebte er die Italienische Küche, und so ganz selbstlos war er eigentlich nie.
Die Einladung war ein Geschenk des Himmels. Seit Tagen, eigentlich Wochen schon, hatte sie sich den Kopf zermartert, wie sie es ihm beibringen sollte. Eine italienische Trattoria bot genau das richtige Ambiente für ihr Anliegen, die romantische Atmosphäre würde das Entsetzen, das ihn ereilen würde, etwas beschwichtigen – hoffte sie.
Sie stellte sich vor, wie sie beim Candlelight-Dinner einander gegenübersäßen, betört vom Duft der hausgemachten Gnocchi, und sah Pauls selbstzufriedenes Grinsen vor sich, das er immer aufsetzte, wenn er vor einem gut gehäuften Teller saß. Das wäre genau der falsche Zeitpunkt, es zur Sprache zu bringen. Auf keinen Fall durfte sie ihm den Appetit verderben. Nahrungszufuhr war ihm heilig.
Diplomatie war geboten. Es kam auf exaktes Timing an. Also frühestens nach dem Essen – wenn der Magen angenehm gefüllt war, eventuell zwischen Hauptgang und Dessert, denn auf das Dessert legte er keinen gesteigerten Wert. Keinesfalls indes vor dem dritten Glas Wein, damit sein Geist jene Leichtigkeit erreicht haben würde, bei dem erotische Signale mehr zählten als nüchterne Fakten. Aber unbedingt, bevor die Rechnung kommen und ihm die Laune wieder vermiesen würde. Apropos, erotische Signale: Was um alles in der Welt sollte sie anziehen? Sie ließ blitzartig das Geschirrtuch fallen und flitzte nach oben ins Schlafzimmer.

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30. November 2016

'Meddjn: Tagebuch einer Magierin' von Selena M.

Es ist die Geschichte von Meddjn, einer jungen Lichtgestalterin von dem Zwergplaneten Áneth. Mehr als hundert Jahre sind vergangen, seit die Raumwanderin mit Meddjns Onkel Noál in die andere Welt ging und sie zurückließ. In dieser Zeit lernte das Mädchen bei der Magierin Melhanea alles, was für das weitere Schicksal Keshenjas unumgänglich war. Die Zeit drängte, da Melhanea des langen Lebens überdrüssig, der jungen Lichtgestalterin gerade einmal das Notwendigste beibrachte, um große Zauber zu meistern und sich Hilfe aus der Welt der Raumwanderer holen zu können.

Nur zwei Jahre nach dem Ableben der Meistermagierin steht Meddjn vor ihrer größten Herausforderung. Eine Blutmagierin treibt in den südlichen Gefilden ihr Unwesen und strebt nach Macht und Unterdrückung aller freien Völker. Die Situation scheint aussichtslos, und nur mit Hilfe einiger Gefährten macht sich die junge Magierin auf in den Süden, um ihrer Gegnerin die Stirn zu bieten. Ein Abenteuer beginnt, in der Magie und Fähigkeiten ebenso gefordert werden, wie die Freundschaft und Liebe, die sich unter den unterschiedlichen Gefährten zu entwickeln beginnt.

Mit Meddjn, Tagebuch einer Magierin, entstand ein Fortsetzungsroman von 'Der Raumwanderin', der in diesem Fall von Meddjn erzählt wird. Doch im Gegensatz zu Noál, dessen Ausdruck immer etwas verträumt wirkt, berichtet Meddjn über ihr Abenteuer in einem etwas lebhafteren Stil, was ihrem jüngeren Alter entspricht. Aus dem wissbegierigen, fröhlichen Mädchen ist eine junge, ernsthafte Frau geworden, deren Ausbildung zur Magierin in zu kurzer Zeit absolviert worden war. Einige kleinere Missgeschicke bleiben nicht aus, wobei es gerade diese sind, die sie nach so vielen Jahren zu der Liebe führt, nach der sie sich insgeheim schon seit langem gesehnt hat.

Aus den Chroniken von Aneth - Band 2.

Gleich lesen: Meddjn: Tagebuch einer Magierin (Aus den Chroniken von Aneth 2)

Leseprobe:
Die letzten Worte hatte ich mit jenem finsteren Blick in seine Richtung gesprochen, dass sich der junge Re~Heresh wortlos in seinen Stuhl sinken ließ. Grimmig ließ ich meinen Blick von einem zum anderen wandern. Ein jeder der Ratsmitglieder ahnte, dass sich mit meinem ersten offiziellen Auftritt die Dinge von nun an ändern würden. Außer Manael und Travnéel, die mir beide anerkennend zunickten.
Vor allem Travnéel, der Majieanáll gegenüber saß, nutzte meine letzten Worte, um seinem Konkurrenten einen frostigen Blick zuzuwerfen:
„Es ist wahr. Wir brauchen eine Magierin. Die Mornothma handeln nicht eigenmächtig, sondern werden von einer dunklen Macht gelenkt, die Blutzauber wirkt. Ein Heer, wie es dazumal gegen die Enedeth gelenkt wurde, wird uns jetzt nicht ausreichen. Noch wissen wir nicht, wie erstarkt die dunkle Macht ist, und womöglich werden selbst Meddjns Kräfte allein nicht ausreichen. - Meine Frage an Euch lautet, Meisterin der Magie, werdet Ihr Euch der Gefahr stellen, oder gibt es einen anderen, einen weniger risikoreichen Plan, wie wir der Bedrohung trotzen können.“
Ich atmete tief durch. Damit war meine schlimmste Befürchtung ausgesprochen, und sie gefiel mir jetzt in diesem Moment noch weit weniger, als es noch vor einigen Tagen der Fall gewesen war.
„Ich werde gehen. Es gibt niemanden in ganz Keshenja, der diese Aufgabe für mich übernehmen könnte. Ich muss mit meinen eigenen Augen sehen, was an der Grenze der Orvallesh vor sich geht, um Näheres zu erfahren und um mich vorzubereiten. Die Morquall Narddmona hat sich erhoben, und sie ist durch und durch böse. Doch ich weiß nicht, welche Zauber sie webt und wie stark ihre Macht ist. Dies gilt es herauszufinden, und um ihre Magie zu verstehen, muss ich sie erfühlen. - Gibt es hier jemanden, der dies außer mir vermag? Dann sprecht, denn ich bin nicht gerade erpicht darauf, mich in den Süden zu begeben, um dort dunkler Magie gegenüberzustehen.“
Ratlose Gesichter! Niemand sprach. Niemand wusste, wie man eine Blutmagierin besiegen konnte, von der man nicht einmal wusste, wie mächtig sie sein mochte.
Ich bemerkte, wie Vehalladan seinen Mund grübelnd verzog, dann trat er neben Farred an den Tisch:
„Ich gehe mit dir, Meddjn. Du brauchst einen Krieger, und du brauchst ein gutes Schwert. Ich kann dir beides bieten.“
Überrascht von dem Angebot klappte mein Mund auf. Damit hatte ich nicht gerechnet. Zwar hatte ich Vehalladan in guter Erinnerung von der Stadt der Lichter, aber allzu viel Umgang während meiner Ausbildung hatten wir keinen gepflegt. Allerdings hielt mich das nicht davon ab, Vehalladans Angebot anzunehmen. Diesen Luxus konnte ich mir in meiner Situation nicht leisten. Gerade wollte ich einen Schritt vortreten, als eine mir nur allzu vertraute Stimme von anderem Ende des Tisches aus zurief:
„Ich bitte ebenfalls darum, Euch begleiten zu dürfen, MeddjnShijien. Für solch eine Reise braucht es einen kühlen Verstand, sowie ich davon überzeugt bin, Euch in dem einen oder anderen unterstützen zu können.“
„Herr Travnéel,“ erhob sich sofort seine Sitznachbarin, die dem Volk der Meister der Gesteine angehörte und deren Namen mir nicht geläufig war, “Ihr seid ein Mitglied des Hohen Rates. Ihr könnt nicht einfach gehen. Ihr werdet hier gebraucht.“
„Tu ich das?“ lächelte Travnéel überheblich, “wie viele Che~Oshán leben in Nathnáal, die meiner Hilfe bedürfen? Wie viele leben überhaupt unterhalb des Grenzgebirges zum hohen Norden? Fünfzig? Hundert? Sie werden ohne mich auskommen, bis ich zurück bin. Und ich werde zurückkommen. Meine Entscheidung steht fest.“
„Was will ein Che~Oshán in der Wüste schon ausrichten?“ grinste Majieanáll von den Re~Heresh quer über den Tisch, “den Sand zu Eis gefrieren lassen, damit die Gegner auf dem glatten Boden ausrutschen?“
Travnéel überging den offensichtlichen Spott mit einem laschen Achselzucken. Seine undurchdringliche Miene war zu einer Maske aus kalter Selbstsicherheit gefroren:
„Wenn es sein muss? Ihr wisst zu wenig über die Che~Oshán, Herr Majieanáll, so, wie Ihr zu wenig über mich wisst. Ihr wisst überhaupt viel zu wenig.“

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29. November 2016

'Septembersonne' von Eva-Maria Farohi

Die Juwelierin Monika arbeitet seit ihrer Scheidung als Schmuckverkäuferin in einem Warenhaus. Auf einer Pauschalreise nach Mallorca trifft sie den verwitweten Mallorquiner Antonio. Er zeigt ihr die Schönheiten der Insel: einsame Buchten und entlegene Strände, das Landesinnere und die Insel Cabrera …

Monika lebt in Antonios Gegenwart auf. Sie beschließt, ihr Leben zu ändern und sich einen interessanteren Job zu suchen. Auch Antonio ist Monika nicht gleichgültig. Als er ihr allerdings vorschlägt, nach Mallorca zu übersiedeln, ist sie dazu nicht bereit.

Die Trennung scheint unvermeidbar.

Gleich lesen: Septembersonne

Leseprobe:
Sie lehnte an der kleinen Mauer und blickte zum Meer hinüber. Die endlos weite Fläche schimmerte im sanften Licht der einbrechenden Dämmerung. Nur wenige Leute waren noch am Strand – Einheimische, dachte sie, die nach der Arbeit ein wenig schwimmen wollten.
Sogar die Uferpromenade war menschenleer. Alle schienen beim Abendessen zu sein, doch Monika hatte keinen Hunger, sie war immer noch zu aufgewühlt. Niemals hätte sie gedacht, dass sie heute Abend hier sein würde.
War das alles wirklich erst gestern gewesen?
Ihre Kollegin hatte am Fenster gestanden. Vier Jahre lang arbeiteten sie schon zusammen in der Schmuckabteilung des großen Kaufhauses. Monika sah die Tränenspuren. „Was ist passiert?“
Irene ließ die Hände sinken. „Meine Mutter, sie ist gestürzt. Jetzt braucht sie rund um die Uhr Hilfe. Tagsüber springt meine Schwester ein, aber in der Nacht bin ich bei ihr.“
„Morgen beginnt doch dein Urlaub?“
„Ja, und ich habe die Reise nicht versichert …“
Monika wusste, was das bedeutete. Keine von ihnen war in den letzten Jahren im Urlaub gewesen, schon gar nicht am Meer.
Plötzlich hob Irene den Kopf. „Was, wenn du fährst?“
„Ich habe keinen Urlaub. Außerdem kann ich mir das nicht leisten.“
„Hör zu, den Urlaub können wir tauschen. Ich gebe dir das Arrangement ganz billig. Besser, als wenn es verfällt. So haben wir beide etwas davon.“
Die Luft war angenehm warm. Langsam verfärbte sich der Himmel. Das helle Grau wechselte in ein mattes Lila, und himbeerrote Wolkenfetzen zogen über den Horizont. Hoch über ihrem Kopf glitzerten zwei Flugzeuge im Licht der letzten Sonnenstrahlen. Dicht hintereinander flogen sie, wie aufgefädelt an einer Kette aus gelborangen Kondensstreifen.
Im Osten ragte eine Landzunge in die Bucht hinein. Sie wirkte unbebaut. Nur auf der obersten Kuppe stand ein viereckiges Gebäude, das mehr einem Turm glich als einem Haus. Das Gebiet war dicht bewaldet, doch zwischen den Bäumen leuchteten einzelne Wiesenflecken im goldenen Licht der Sonne.
Der Sand der Bucht war hell. Gruppen knorriger Bäume formten einsame Inseln, die mit dicken Kordeln vom Strand abgetrennt waren.
Es roch nach Meer, nach Algen, nach Fisch. Und auch ein wenig nach Kokosnuss so wie die Sonnenmilch in Monikas Badetasche.
Sie zog die Schuhe aus und ging durch den warmen Sand zum Wasser.
Kleine Wellen schwappten über ihre Füße, der Boden hier fühlte sich kühl an. Ohne ein wirkliches Ziel zu haben, schlenderte sie weiter.
Wann war sie zuletzt am Meer gewesen?
Sie dachte an ihren geschiedenen Mann. Mit ihm war sie öfter verreist – damals, als sie noch den kleinen Juwelierladen hatten.
Wieder spürte sie etwas von der alten Verbitterung und zwang sich, an etwas anderes zu denken.
Am Ende der Bucht war ein hölzerner Steg, der rund um das große Bierlokal herumführte. Es lockte sie, zu erforschen, was dahinter lag.
Plötzlich tauchte der Hund auf. Es war ein struppiger Mischling mit schwarzem Fell und weißen Flecken auf den Pfoten.
Sie bückte sich. Er rieb seine Schnauze gegen ihre Handfläche. Dann sprang er rückwärts, setzte sich und bellte auffordernd.
Sie lachte. „Du bist mir vielleicht einer. Was willst du denn?“
Er rannte fort, schien nach etwas zu graben, kam zurückgelaufen und legte eine leere Plastikflasche vor ihre Füße.
Es war lange her, dass sie einen Hund gehabt hatte. Auch das gab es nicht mehr in ihrem Leben.
Sie hob die Flasche auf und warf sie, so weit sie konnte. Wie ein Pfeil jagte er hinterher und brachte die Flasche zurück.
Monika setzte ihre Wanderung fort, doch der Hund wurde nicht müde, zu apportieren. Willig spielte sie mit ihm weiter, bis sie zu dem Steg kamen. Sie stieg die Stufen hinauf. Der Hund folgte ihr.
„Jetzt ist Schluss“, sagte sie und drehte sich um. „Geh zurück, nach Hause.“
Er machte Anstalten, ihr nachzulaufen.
„Nein.“ Sie blieb stehen, hob den Arm und deutete in die andere Richtung. „Geh zurück jetzt. Los.“
Der Hund zögerte, kratzte sich hinter dem Ohr, machte kehrt und trabte in Richtung der Promenade, und Monika ging weiter.
Das Quietschten von Reifen unterbrach ihre Gedanken. Ein Auto jagte mit überhöhter Geschwindigkeit um den Kreisel herum, in den die Stichstraße mündete. Sie hörte ein schrilles Jaulen – es klang wie der Schrei eines Vogels.
Monika zuckte zusammen, sie konnte nur noch die Rücklichter des Wagens sehen.
In der Mitte des Kreisels lag etwas, es war schwarz und unförmig, sah aus wie ein Sack. Sie ging darauf zu.
Noch ehe sie nahe genug war, um es genau erkennen zu können, wusste sie, was es war. Sie beschleunigte ihre Schritte, lief hin und griff nach dem Bündel.
Der Hund öffnete die Augen und wimmerte. Sein Schwanz bewegte sich ein wenig, so als versuchte er zu wedeln.
„Oh mein Gott, was ist denn passiert?“, Monika streichelte seinen Kopf, fasste unter die Flanke.
Es fühlte sich feucht an. Feucht und klebrig.
Hastig zog sie die Hand heraus. Sie war rot.
„Oh nein, was mache ich nur, was kann ich bloß tun?“ Sie drehte sich hilfesuchend um. Panik stieg in ihr hoch. Da bemerkte sie den Radfahrer.
„Hallo“, rief sie, und lief auf ihn zu. „Können Sie mir helfen?“
Er reagierte nicht, fuhr einfach weiter.
Sie kniete neben dem Hund. Er rührte sich nicht. Sein Atem ging stoßweise, begleitet von einem röchelnden Geräusch.
Es kam ein Auto. Eine Türe schlug zu.
„¿Qué pasa?“
„Signore“, stammelte sie. „Er ist angefahren worden. Non so – ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll.“
Er hockte sich neben sie. Griff nach dem Hund.
„Er ist verletzt“, sagte er in tadellosem Deutsch. „Wir müssen ihn zum Tierarzt bringen. Ist das Ihr Hund?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, er ist unten am Strand herumgelaufen. Dann kam dieser Wagen. Bitte helfen Sie mir. Er kann doch hier nicht so liegen bleiben.“
Der Mann nickte, ging zu seinem Auto. „Legen wir ihn auf die Decke. So ist es gut. Können Sie ihn halten? Es ist besser, sie setzen sich auf die Rückbank.“

Im Kindle-Shop: Septembersonne

Mehr über und von Eva-Maria Farohi auf ihrer Website.

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28. November 2016

'Melody of Eden 1: Blutgefährten' von Sabine Schulter

**Eine Liebe, so tief wie die Nacht**

Vampire – Mythos oder Wahrheit? Diese Frage stellt sich auch die 23-jährige Melody, als sie gemeinsam mit ihrer Freundin die unterirdischen Gänge ihrer Heimatstadt erforscht. Schon immer hat sie sich gefragt, ob es diese Wesen der Nacht tatsächlich gibt. Es wird gemunkelt, dass die Regierung ihre Existenz zu vertuschen versucht, und Melody würde nur zu gerne herausfinden, warum. Als sie plötzlich von einer unheimlichen Kreatur in die Tiefe gerissen und von einem unglaublich anziehenden Mann gerettet wird, ist ihr Wissensdurst nicht mehr zu stillen.

Doch schon bald muss Melody herausfinden, dass es Wesen gibt, die man besser nicht auf sich aufmerksam macht …

Gleich lesen: Blutgefährten (Melody of Eden 1)

Leseprobe:
Missmutig betrachtete ich das Gitter vor mir, das mir den Zutritt in den Untergrund versperrte. Ein leicht muffiger Luftzug wehte mir aus der dahinterliegenden Kanalisation entgegen und übertünchte sogar den Abgasgeruch der Autos. Eine alles verschlingende Dunkelheit lag in dem Tunnel, aber ich war mir sicher, dass sich dort etwas befand. Etwas, von dem sich die meisten wünschten, dass es nicht existierte.
»Mel«, jammerte Daisy hinter mir. »Lass es gut sein. Du hast mir bewiesen, dass du mutig bist. Jetzt lass uns heimgehen. Es ist kalt und schon sehr spät.«
Kurz hob ich den Blick und ließ ihn über den sternenklaren Himmel gleiten. Keine Wolke bedeckte ihn und nicht einmal der Mond zeigte sich Nur das schmutzig gelbe Licht der Stadt, deren Häuser sich um den alten Wasserkanal, in dem wir uns befanden, in die Höhe schraubten, beleuchtete unsere Umgebung. Dadurch wirkte die Nacht ungewohnt hell und ließ sogar die Sterne verblassen.
Lichtsmog.
Wie ich ihn hasste.
»Ich will aber wissen, ob es Vampire wirklich gibt«, maulte ich und blickte wieder zu dem Gitter, das mir den Weg in die Kanalisation versperrte.
»Melody, bitte!«, flehte Daisy inzwischen. Ich hörte das Rascheln ihres Parkas, an dessen Saum sie vor Nervosität herumnestelte.
»Hast du dich nie gefragt, ob die Gerüchte wahr sind?«, entgegnete ich und versuchte, etwas zwischen den Gitterstäben hindurch zu erkennen. Alles schien still, bis auf das beständige Summen der Autos, die auf der Straße über uns hinwegfuhren.
»Mir ist total egal, ob es tatsächlich Vampire im Untergrund gibt oder nicht. Mir ist auch egal, dass es welche bei der Nachtpolizei geben soll. Ich bin glücklich, wenn ich in Ruhe gelassen werde und du mich aus diesem Loch begleitest«, schimpfte Daisy.
»Wieso bist du dann mit mir hierhergekommen?«
Nun fauchte mich meine Freundin regelrecht an. »Falls du es vergessen hast: Du hast mich hier heruntergezogen, um mir dieses Gitter zu zeigen! Ich hingegen wollte ganz gemütlich nach Hause laufen … Freiwillig bin ich also nirgendwohin mitgekommen!«
Leider musste ich ihr da sogar Recht geben, aber die Geschichten über die Vampire, die es im Untergrund und teilweise auch unmittelbar unter uns geben sollte, faszinierten mich. Seit unserer frühesten Kindheit haben unsere Eltern uns diese Geschichten erzählt, damit wir abends rechtzeitig nach Hause kamen und nicht von den Blutsaugern abgepasst werden konnten.
Doch ich hatte noch nie einen gesehen.
Weder einen dieser bösartigen Vampire, von denen uns erzählt wurde, noch die offiziellen Hüter der Nacht, die bei der Polizei arbeiten sollten. Und nicht einmal in der Presse gab es Berichte über Vampire oder deren Angriffe auf Menschen. Woher also sollte ich wissen, dass es sie wirklich gab und ob sie gefährlich waren? Sie könnten genauso gut erfunden sein, um uns still und verängstigt zu halten. Ein moderner Mythos, den ich gern erforschen wollte.
»Was ist, wenn es sie gibt und wir uns hier in Gefahr befinden?«, gab Daisy verunsichert zu bedenken. Ich verzog den Mund, denn sie konnte durchaus Recht haben. War ich wirklich so lebensmüde, diesen möglichen Monstern bewusst in die Arme zu laufen? Nur, weil mich Vampire faszinierten?
Frustriert trat ich gegen das Gitter und wandte mich dann Daisy zu. Sie sah mit den hochgezogenen Schultern und dem Schal, in den sie das Kinn tief vergrub, wirklich sehr verängstigt aus und nun tat es mir leid, dass ich sie hier heruntergezogen hatte.
Daisy war nur ein Jahr jünger als ich, aber sehr schüchtern und schnell zu ängstigen. Normalerweise würde ich sie niemals an solche Orte schleppen, weil sie hier einfach nicht hergehörte, aber heute hatte es mich irgendwie überkommen.
»Entschuldige«, gab ich klein bei. »Lass uns gehen.«
Ich trat von dem Gitter fort und Daisy atmete erleichtert auf. Doch gerade, als ich bei ihr ankam und wir den Aufstieg hoch zur Straße in Angriff nahmen, hörten wir ein Geräusch hinter uns.
Daisy keuchte voller Angst auf und blickte gehetzt über die Schulter. »Was war das?«
Ich blickte ebenfalls zurück, doch hinter dem Gitter war nun wieder alles still.
»Keine Ahnung«, meinte ich und machte kehrt.
»Mel, komm da weg!«, zischte Daisy, aber ich hielt bereits inne und musterte das Gitter aus einer sicheren Entfernung von drei Metern.
»Hm, nichts«, sagte ich und wandte mich erneut um.
Da zischte es mehr als deutlich hinter mir und bevor ich reagieren konnte, prallte etwas mit solcher Wucht gegen das Metall der Stäbe, dass das Gitter aus seiner Fassung geschmettert wurde und mich trotz meines Abstandes in den Rücken traf.
Schmerz explodierte in meinem gesamten Körper, aber ich war noch so geistesgegenwärtig, die Hände auszustrecken und zu verhindern, dass ich mit dem Gesicht auf den rauen Beton prallte. Das Gewicht des Gitters presste mir alle Luft aus den Lungen und drückte mich fest zu Boden. Wie gelähmt blieb ich liegen, während Daisy voller Panik schrie.
Obwohl sie schon wie eine Sirene klang, steigerte sich ihr Kreischen noch mehr, als hinter mir Schritte ertönten. Das Gitter wurde von mir gerissen und aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie es davonflog, als wäre es so leicht wie ein Blatt Papier. Ich wollte mich umdrehen, um zu sehen, was Daisy in solche Panik versetzte, aber da wurde bereits mein Fuß gepackt und unbarmherzig Richtung Abwassertunnel gezerrt.
»Melody!«, kreischte Daisy.
Ich warf mich herum, um den Angreifer mit meinem freien Fuß zu treffen, erstarrte aber, als ich das Wesen über mir sah.
Es handelte sich um eine Art Mensch, der so dürr war, dass ich jeden einzelnen Knochen zu erkennen glaubte. Seine Haut besaß die ungesunde Farbe von Kalk und er schien komplett unbehaart zu sein. Kleider trug das Wesen nämlich keine und als es sich umwandte, um Daisy drohend anzuzischen, erkannte ich deutlich die spitzen Fangzähne.
Ich hatte meinen Vampir gefunden.
Sofort wünschte ich mir, nie hierhergekommen zu sein, denn trotz seiner schmächtigen Gestalt steckte in dem Vieh eine erstaunliche Kraft. Es schleifte mich so schnell davon, dass ich erst reagieren konnte, als ich schon halb im Tunnel verschwand. Ängstlich warf ich mich erneut herum und versuchte, irgendwo Halt zu finden.
»Daisy!«, rief ich ängstlich, als ich keinen fand, und hielt meiner Freundin die Hände hin.
Eilig kam sie heran, doch bevor sie auch nur den Tunnel erreichte, zog mich der Vampir hinein in die Dunkelheit.
»Nein! Mel, Mel!«, weinte Daisy und hielt verängstigt inne.
Sie traute sich nicht, den Tunnel zu betreten und lief davor auf und ab. Erschreckend schnell schmolz der kleine Kreis des Ausganges dahin und wollte mir das restliche Licht nehmen, ohne das ich absolut nichts sehen konnte.
Nun kämpfte ich wild gegen meinen Entführer, trat um mich, wand mich wie eine Schlange und kreischte meine Angst heraus, aber das Einzige, das ich mir dadurch einbrachte, war die Wut des Wesens.
Mit einem Zischen zog es an meinem Bein, so dass ich regelrecht nach vorn geschleudert wurde und schmerzhaft gegen die Betonwand zu meiner Rechten prallte. Dann warf mich das Wesen gegen die gegenüberliegende Wand und erneut presste es mir die Luft aus den Lungen. Schmerz pulsierte in Wellen durch meinen Körper, wodurch ich wohl kurz das Bewusstsein verlor, denn als nächstes spürte ich, wie ich über der Schulter des Wesens lag und wie ein Sack durch die Dunkelheit geschleppt wurde. Für kurze Zeit war ich so orientierungslos, dass ich mich einfach nur festhielt, aber die bleiche Haut unter meinen Fingern fühlte sich so klamm und unnatürlich rau an, dass ich augenblicklich wieder losließ.
Pure Angst brandete in mir auf. Wenn dieses Wesen wirklich ein Vampir war, wusste ich nur zu genau, wie diese Geschichte enden würde. Ich begehrte bei dem Gedanken auf, schlug um mich, trat, biss und schrie. Ich gab alles, um mich befreien zu können, und doch hätte ich mich genauso gut entspannen können. Denn all meine Bemühungen waren umsonst. Das Wesen war so stark, dass ich absolut nichts ausrichten konnte.
Verzweifelt schluchzte ich, bäumte mich ein letztes Mal auf und schrie so laut um Hilfe, dass mir die Kehle schmerzte. Aber hier unten würde mich niemand hören, das dachte ich zumindest.
Denn im nächsten Moment schlitterte ein so helles Licht vor mir in den Tunnel, dass es mich für kurze Zeit blendete - und mit ihm zusammen kam uns ein Mann in einem langen schwarzen Mantel hinterhergerannt. Unmenschlich schnell rannte er uns hinterher und das Wesen, das mich trug, zischte wütend. Ich spürte, wie es schneller wurde und versuchte, zu entkommen.
Hoffnung erwachte in mir und erneut bemühte ich mich, keine allzu leichte Beute zu sein. Da schlagen, treten oder kreischen das Wesen unbeeindruckt ließen, warf ich mich kurzerhand zur Seite und versuchte gleichzeitig, mich um meine eigene Achse zu drehen. Tatsächlich brachte dies das Wesen aus dem Gleichgewicht und unser Verfolger machte wichtigen Boden wett.
Er kam so nah an uns heran, dass ich in ihm einen Mann mit rabenschwarzem Haar erkannte, der fest die Zähne aufeinanderbiss und wohl all seine Kraft hineingab, um uns zu erreichen. Egal, wer er war, er sah weit menschlicher aus, als dieses furchtbare Wesen und ich gab gern alles, um zu ihm zu gelangen.
Gegen den festen Griff des Wesens ankämpfend, streckte ich mich und hielt meinem Retter eine Hand entgegen, die er nur zwei Sekunden später ergreifen konnte. Zu meiner Überraschung sprang er nach vorn und riss so hart an meinem Arm, dass ich glaubte, entzweigerissen zu werden. Dadurch wurde das Wesen unter mir nach hinten gezerrt und mein Retter flog regelrecht auf uns zu. Sein Fuß traf das Wesen in den unteren Rücken und ich hörte es laut knacken.
Der Vampir kreischte so hoch auf, dass es in meinen Ohren dröhnte. Dabei ließ er mich los, weshalb ich nun erschreckend heftig Richtung Boden prallte. Wieder kam mir der Mann mit dem schwarzen Haar zu Hilfe, indem er mich packte und zu sich heranzog. Durch dieses Manöver landete ich direkt auf ihm und nicht wie erwartet schmerzhaft auf dem Beton. Trotzdem konnte ich einige Sekunden nichts Anderes tun, als einfach liegenzubleiben.

Im Kindle-Shop: Blutgefährten (Melody of Eden 1)

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24. November 2016

'Tödliche Meeresnacht' von Eva-Maria Farohi

Jeder Mörder hinterlässt eine Spur, man muss sie nur finden. Davon ist Chefinspektor Vicent Rius überzeugt. Als er auf der Mittelmeerinsel einen scheinbar einfachen Unfalltod untersuchen soll, entdeckt er schnell Ungereimtheiten: Wer ist die schöne Tote unter den Klippen wirklich – und welche Rolle spielt ihr Ehemann? Immer tiefer dringt der erfahrene Ermittler in ein Netz aus Lügen, Betrug und Habgier ein, bis nichts mehr so ist, wie es scheint, und die Unschuldigen zu Schuldigen werden.

Eine Kriminalgeschichte aus Mallorca.

Gleich lesen: Tödliche Meeresnacht




Leseprobe:
„Ich habe keine guten Nachrichten. Ihre Frau ist tot.“
Ben Höffner hätte nicht gedacht, dass ihn noch irgendetwas erschüttern könnte.
Regungslos starrte er die Anwältin an, die ihm gegenübersaß. Das Konsulat hatte sie empfohlen.
Der kahle Raum der Gefängnisanstalt war nicht nur wegen seiner Schmucklosigkeit kalt. In den letzten Tagen hatten die sinkenden Temperaturen die Mauern stark abgekühlt. Es ging auf Weihnachten zu.
„Wieso …“, begann er. Und brach ab.
„Man hat sie vor zwei Tagen gefunden, in der Nähe Ihres damaligen Hotels, unterhalb der Klippen.“
Beinahe fünf Monate schon saß Ben jetzt in diesem Gefängnis und er war sich sicher, dass er die Tat, die man ihm zur Last legte, niemals begangen haben konnte. Seine Frau musste es ebenfalls gewusst haben. Jetzt war sie tot.
„Wie ist es passiert?“, fragte er.
Die Anwältin zuckte die Schultern.
Sie war eine hagere Person mittleren Alters. Alles an ihr schien ein wenig grau zu sein. Zu dem Tweedkostüm mit dem Karomuster trug sie eine weiße Bluse mit einem ordentlich gebügelten Kragen. Ihre Stimme klang wie das Geräusch von aneinanderreibenden Kieselsteinen.
„Sie dürfte ausgeglitten sein. Die Felsen bei der Bucht sind nass und rutschig.“
Ben nickte. Wie in einem Karussell drehten sich seine Gedanken im Kopf, und obwohl die Gespräche in dem kahlen Besuchsraum für gewöhnlich seine einzige Ansprache darstellten, wünschte er sich in die Einsamkeit der Zelle zurück, die ihm viel zu lange schon als Wohnort diente.
Marlene. Er sah sie vor seinem inneren Auge, wie sie strahlte, lachend, in einem der von ihr so sehr geliebten roten Kleider. Genauso wie damals, als er ihr zum ersten Mal begegnet war. Der federnde Gang. Die biegsame Gestalt, ihr schlanker Körper, die schneeweißen Arme.
An seinem Hochzeitstag war er der glücklichste Mann gewesen.
Wann genau hatte dieser ganze Albtraum begonnen? Er wusste es nicht.
In all diesen endlosen Monaten hatte er jeden einzelnen Tag darüber nachgedacht. Ohne Erfolg.
Fünf Jahre waren sie miteinander verheiratet gewesen. Immer noch hatte er sich für genauso glücklich wie zu Beginn seiner Ehe gehalten.
Bis zu diesem Juli.
Erst zwei Tage zuvor waren sie auf der Insel angekommen. Mallorca. Eine ganze Woche wollten sie zusammen ausspannen, in dem kleinen Landhotel fernab von der Küste.
Es war ein hübsches Steingebäude mit blaugrauen Fensterläden. Unter den hohen Bögen, die die Terrasse des oberen Stockwerks trugen, konnte man wunderbar im Schatten entspannen. Mehrere Korbstühle standen hier, große Grünpflanzen in Terrakottatöpfen. An der Seite des Gebäudes wucherte eine lilafarbene Bougainvillea. Glasklar funkelte das Wasser im Pool. Schwappte mit leisem Gluckern in die Überlaufrinne.
Rundum war nichts — nur kahle Erde, auf der in endlosen schnurgeraden Reihen Mandeln und Feigenbäume wuchsen. Präzise grenzten die unzähligen Trockenmauern die einzelnen Grundstücke von einander ab.
Vereinzelt konnte man auf den umliegenden Hügeln noch andere Gehöfte sehen. Überall weideten Schafe. Das Bimmeln ihrer Glocken war weit und breit das einzige Geräusch. In endloser Ferne schimmerte das Meer.
Von Anfang an hatte er sich hier wohl gefühlt. Marlene ging es genauso. Oder war das nur eine Täuschung gewesen?
„Lass uns heute Abend hierbleiben“, hatte sie geflüstert und ihn umarmt.
Im Schutz der hohen Bögen waren einige wenige Tische gedeckt, an denen man zu Abend essen konnte. Kleine Laternen verbreiteten ein sanftes Licht auf der Terrasse, überall standen Kerzen. Rubinrot schimmerte der Wein in ihren Gläsern.
In derselben Nacht hatten sie sich geliebt. Immer noch vermeinte er den Duft ihrer Haut zu riechen.
Jetzt saß er in seiner Zelle, auf dem unteren der beiden Betten. Mattes Licht drang durch das vergitterte Fenster. Mit seinen Fingern zerwühlte er das Haar, vergrub die Stirn in den Handflächen.
„Was ist dann passiert?“, fragte er sich, wie schon tausende Male zuvor.
Am nächsten Morgen war er mit Kopfschmerzen aufgewacht.
Der Wein muss schlecht gewesen sein,war sein erster Gedanke gewesen, ehe er mit der Hand nach der anderen Seite tastete. Sie war nicht da. Er streckte sich aus und lächelte.
Einige Minuten später rief er ihren Namen — irgendwann ging er ins Bad.
Es war leer.
Wo war Marlene?
Schnell zog er seine Hose über und trat hinaus auf die Terrasse.
Im Osten kämpfte sich die Sonne durch die Wolkengebirge am Horizont. Ihr gleißendes Licht ließ das Meer hell glänzen. Er stand im Morgenlicht.
Auf die Brüstung gestützt sah er hinunter in den Garten.
Kein Mensch war zu sehen.
Er drehte sich um, ging durch das Appartement zurück in Richtung der Tür und bemerkte die Vase, die auf dem niedrigen Couchtisch gestanden hatte.
Sie lag auf dem Boden und war zerbrochen.
Er bückte sich, hob die größten Teile auf und legte sie auf den Tisch zurück.
Dann erst ging er zur Tür, öffnete sie leise und trat auf den Flur hinaus.
Außer ihm schienen noch alle zu schlafen. Im Haus war kein einziges Geräusch zu hören.
Die schwere Eingangstür aus Eichenholz knarzte leise, als er sie öffnete.
Auf dem Weg um das Haus herum begegnete ihm niemand. Automatisch sah er hinüber zu dem kleinen Parkplatz. Der Leihwagen stand noch genauso dort, wie er ihn abgestellt hatte.
Wo war Marlene?
Er setzte sich auf die Stufen und wartete. Langsam nur vergingen die Minuten.
Irgendwann später erwachte das Haus zum Leben.
Man hörte das Klappern von Besteck, es roch nach Kaffee.
Dann wurde die Tür geöffnet und der Eigentümer des Hauses trat auf die Terrasse.
„Guten Morgen. Haben Sie gut geschlafen?“
Ben stand auf. „Haben Sie meine Frau gesehen? Sie ist nicht hier.“
„Nein, bedaure. Vielleicht ist sie spazieren gegangen. Oder zum Meer gefahren. Der Sonnenaufgang ist wunderbar.“
„Der Wagen steht hier.“
„Sie könnte ein Stückchen weiter gegangen sein als geplant. Bestimmt kommt sie bald zurück. Machen Sie sich keine Gedanken. Bei uns passiert niemandem etwas.“ Der Mann lächelte verbindlich.
Ben nickte und steckte die Hände in seine Hosentaschen.
Unruhig trank er einen Kaffee, mochte nichts frühstücken, ging dann zurück ins Zimmer.
Er öffnete den Schrank. Alles hing ordentlich auf den Bügeln. Dabei fiel sein Blick auf die gepolsterte Sitzgarnitur, und er bemerkte, dass Marlenes Handtasche fehlte. Auch ihr Handy konnte er nirgends sehen.
Sofort griff er zu seinem eigenen Telefon und wählte die Nummer, doch niemand meldete sich. Das Gerät war offenbar ausgeschaltet.
Abermals durchquerte er die kühle Eingangshalle, trat hinaus in das helle Sonnenlicht und ging durch das Tor auf den unbefestigten Weg zu, der als Zufahrt diente.
Er kam an niedrigen Steinmauern vorbei, ging weiter zwischen den graslosen Grundstücken, auf denen Schafe nach etwas Fressbarem suchten. Einige Mandelbäume spendeten spärlichen Schatten, manchmal konnte man die weit ausladende Krone eines Johannisbrotbaums sehen. Kräftig brannte die Sonne herab. Die Luft schien zu flimmern.
Er bemerkte nichts von alledem,ging er weiter, bis er die asphaltierte Straße erreichte. Auch hier war nichts zu sehen.
Als er zurückkam, suchte er nach dem Eigentümer und fand ihn in seinem Büro.
„Bitte verständigen Sie die Polizei. Meiner Frau muss etwas zugestoßen sein.“
Man versuchte, ihn zu beruhigen. „Sie werden sehen, alles klärt sich auf. Ihrer Frau ist bestimmt nichts passiert.“ Das Lächeln auf dem Gesicht seines Gegenübers irritierte ihn.
Dennoch bestand er darauf, dass der Mann bei der Behörde anrief.
„Die Polizei kümmert sich darum. Wenn Ihre Frau einen Unfall gehabt hat, werden wir es bald erfahren“, war alles, was man ihm mitteilte.
Wieder wartete er. Er ging den Weg über die Terrasse hinaus bis zum Ende der kleinen Mauer und wieder zurück.
Die sengende Hitze spürte er nicht, merkte erst, dass er Durst hatte, als man ihm ein Glas Wasser brachte.
Irgendwann kam dieses weiße Motorrad angefahren, mit dem auffälligen Streifen aus kleinen blau-weißen Quadraten.
Der Polizist war freundlich, sprach gut Deutsch.
Er hörte Ben zu und brauste wieder davon.
Am späten Nachmittag fuhr ein Wagen vor. Zwei Männer in Uniformen stiegen aus und gingen in Richtung des Eingangs.
Als Ben die Halle betrat, sah er die beiden mit dem Hotelbesitzer sprechen.
„Was ist mit meiner Frau? Haben Sie sie gefunden?“
Sie drehten sich nach ihm um.
„Ben Höffner?“, sagte der eine der beiden knapp und schwieg dann.
Ben spürte, wie sie ihn musterten, obwohl er ihre Augen hinter den dunklen Sonnenbrillen nicht erkennen konnte.
Er nickte.
„Herr Höffner, würden Sie so nett sein und den Beamten Ihr Appartement zeigen“, meldete sich der Eigentümer zu Wort.
„Ist etwas mit meiner Frau passiert? Hat man sie gefunden?“
„Bitte beruhigen Sie sich. Ihrer Frau dürfte es einigermaßen gutgehen. Sie hat sich gemeldet.“
„Bei wem? Wieso nicht bei mir? Sie verheimlichen mir doch etwas!“
Der Hotelbesitzer nahm den Schlüssel für das Appartement von dem entsprechenden Haken.

Im Kindle-Shop: Tödliche Meeresnacht

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23. November 2016

'Tod einer Millionärin' von Achim Zygar

In der Industriellen-Familie der Bernheims ist ein Kampf um zig Millionen Euro entbrannt. Alles dreht sich um die Erbschaft der kürzlich verstorbenen Firmenpatriarchin Clotilde Bernheim. Es ist ein blutiger Kampf. Als ein Mann erstochen auf einem Wanderweg im Teutoburger Wald gefunden wird, sieht es erst nach Raubmord aus. Doch die Spur führt zu den Bernheims und zu den beiden Brüdern Bernd und Kai. Der Tote ist ihr Halbbruder, der zur Beerdigung der verstorbenen Mutter aus den USA gekommen war. Mit ihm müssen sie die Erbschaft nun nicht mehr teilen.

Für Kriminalhauptkommissar Haverbeck ist die Ermittlungsarbeit mühsam, denn weitere Todesfälle kommen hinzu. Und dann ist da noch ein schlimmes Geheimnis, das er lüften muss. Dass sein neuer Chef zum Freundeskreis der Bernheims gehört, erschwert seine Arbeit zusätzlich.

Ein Buch aus der Reihe "Krimis aus Bielefeld: Haverbeck ermittelt"

Gleich lesen: Tod einer Millionärin: Haverbeck ermittelt (5. Fall)

Leseprobe:
Leise wie eine Katze schleicht die Gestalt die schmale Treppe hinauf. Stufe für Stufe geht es in den ersten Stock. Auf dem Flur bleibt sie kurz stehen. Ein Teppich auf den Marmorplatten soll die Gehgeräusche dämpfen. Aber wer in Socken durchs Haus schleicht, könnte darauf verzichten. Etliche Zimmer gehen von dem Flur ab. Sie nimmt ihr Ziel ins Visier. Langsam geht sie den Gang entlang und bleibt vor einer der mittleren Türen auf der linken Seite stehen. Es ist eine schwere Mahagonitür. Sie lauscht in die Stille. In der Ferne hört sie das Brummen von Lastkraftwagen. Schlechte Lage für ein so teures Haus, denkt sie und muss schmunzeln. Aber man hat mich ja damals nicht gefragt. Nein, nicht solche Gedanken jetzt.
Sie legt die Hand auf die Klinke. Ihr Puls rast. Mehrmals atmet sie tief ein und aus. Gott sei Dank, die Hand bleibt ruhig. Sie drückt die Klinke herunter und öffnet die Tür einen Spalt. Wieder muss sie schmunzeln. Nichts hat gequietscht oder geknarrt. Das sind die Vorteile einer fünfzehn Millionen Euro teuren Villa. In einem solchen Gebäude passt jede Schraube und jedes Scharnier. Pech für Clotilde Bernheim, die in diesem Zimmer schläft. Die Person schiebt die Tür soweit auf, dass sie eintreten kann. Sie überlegt einen Moment. Es ist besser, die Tür wieder zu schließen. Sie rechnet zwar nicht damit, dass es irgendwelche Geräusche geben wird, aber Sicherheit geht vor.
Die Gestalt geht in den hinteren Bereich des großen Zimmers, dort wo das Bett ist. Sie sieht auf die Uhr, die auf dem Nachttisch steht. Es ist halb drei. Clotilde liegt auf dem Rücken. Gegen die ersten Strahlen der in Kürze aufgehenden Sonne hat sie sich eine Schlafmaske aufgesetzt. Was wurde im Wetterbericht gestern Abend gesagt? Es soll wieder ein sonniger Tag werden, mit Höchsttemperaturen von über dreißig Grad. Du wirst keine Sonnenstrahlen mehr sehen und du wirst dich nicht mehr über diese Temperaturen aufregen. Du wirst dich über gar nichts und niemanden mehr aufregen können, geht es ihr durch den Kopf.
Die Person setzt den Rucksack ab und zieht ein rotes Kissen heraus. Sie steht neben Clotildes Bett in Höhe des Kopfes und sieht ihr ins Gesicht. Diese große Schlafmaske ist ein Segen. Sie schafft Distanz und erleichtert das, was gleich getan werden muss. Dann schließt die Gestalt für einen Moment die Augen und drückt der alten Frau mit beiden Händen das Kissen ins Gesicht.
Sofort versucht Clotilde ihren Kopf hin und her zu drehen, sucht nach einem Weg, sich aus der misslichen Lage zu befreien. Doch es bleibt bei Versuchen. Zu kräftig ist der Druck, der auf ihrem Gesicht lastet. Sie zerrt an dem Kissen, schlägt mit den Armen wild um sich, sie strampelt mit den Beinen. Doch alle Bewegungen sind unkoordiniert, es fehlt ein Ziel. Sie weiß in diesem Moment nicht, was eigentlich passiert. Sie weiß nur, dass sie nicht mehr atmen kann.
Zweiundsiebzig Jahre ist sie alt. Die Person ist erstaunt, welche Kräfte Clotildes Körper kurz vor dem Exitus entfaltet. Sie presst das Kissen mit gestreckten Armen auf ihr Gesicht und muss aufpassen, von den wild fuchtelnden Armen nicht getroffen zu werden. Doch irgendwann werden die Bewegungen schwächer, der Widerstand ist gebrochen. Der Organismus hat alle Sauerstoffvorräte verbraucht. Noch drückt sie das Kissen auf Clotildes Gesicht, wenn auch nicht mehr so fest. Dann hebt sie es vorsichtig hoch, so als befürchte sie, die Frau könne wieder atmen und diesmal schreien.
Sie legt das Kissen auf die Bettdecke und beobachtet das Gesicht. Nein, Clotilde Bernheim atmet nicht mehr. Erst jetzt spürt sie, wie sich die Muskulatur ihrer Arme verkrampft hat. Doch diese Schmerzen erträgt sie gerne. Sie ist stolz, diesem Leben ein Ende bereitet zu haben. Der Einsatz wird sich gelohnt haben, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Clotilde Bernheims Tod wird der Geldnot vieler Menschen ein Ende setzen. Es ist eine gute Tat. Was ist schon der Tod dieser Frau gegen das Glück so Vieler?
Die Person setzt den Rucksack auf. Sie richtet die Schlafmaske, streicht das Haar der toten Frau glatt und zieht die Bettdecke gerade. Clotilde soll durchaus eine unruhige Nacht gehabt haben, was bei diesen Temperaturen niemanden verwundern wird. Aber ihr Bett soll nicht nach einem Kampfplatz aussehen, sie soll eines natürlichen Todes gestorben sein. Herzversagen wird später im Totenschein zu lesen sein.
Sie nimmt das Kissen, verlässt den Raum und geht den Flur zurück. Vor dem letzten Zimmer bleibt die Person für einige Sekunden stehen und überlegt. Dann öffnet sie behutsam die Tür und huscht hinein. Es dauert nicht lange, dann steht sie wieder auf dem Flur. Sie atmet tief ein und aus. Es ist vollbracht. Auf der schmalen Treppe schleicht sie, so leise wie sie gekommen ist, nach unten. Sie öffnet den Hinterausgang, zieht ihre Schuhe an und verlässt das Haus. Quer über den Rasen geht die Gestalt zurück in den Wald.

Fünf Tage später

» . . . Clotilde Bernheim war nicht nur eine erfolgreiche Unternehmergattin, sie war auch eine großzügige Spenderin. Ich möchte nur an den Bau des Freizeitzentrums erinnern oder an die jährlich über tausend Urlaubsreisen, die sie weniger begüterten Familien ermöglichte. Aber sie war auch eine treusorgende Mutter . . . «
In der Neustädter Marienkirche in der Bielefelder Altstadt ist kein Sitzplatz mehr frei. Weil man damit gerechnet hat, dass die halbe Stadt zur Trauerfeier erscheinen wird, wurden vor und neben der Kirche Lautsprecher aufgestellt. So ist es auch gekommen. Mehrere hundert Trauergäste stehen im Freien und hören gebannt der Ansprache des Pastors zu. Die Trauerrede hält Dr. Gerd Pflüger, der die Familie seit vielen Jahrzehnten kennt.
Doch neue Details aus dem Leben der Patriarchin erfahren die Zuhörer nicht. Pastor Pflüger hält sich streng an die offizielle Familiengeschichte, die jeder aus Zeitschriften, Broschüren und Büchern kennt. Clotilde Bernheim und ihr Mann Gustav haben selbst viel geschrieben. Sein Hauptwerk »Mein Leben als Unternehmer. Wie ich mit Schrauben meine erste Million erarbeitete« war sogar ein Bestseller. Nicht ganz so erfolgreich war das Buch seiner Frau: »Clotilde Bernheim­. Erinnerungen einer Unternehmergattin«. Die Bücher waren wahlweise als Taschenbuch erhältlich oder als aufwändig gestaltete Sonderedition.
»Der spinnt ja . . . treusorgende Mutter . . . «, haucht jemand in der ersten Reihe, nur wenige Meter vom Sarg entfernt, seinem Nachbarn zu.
»Halt die Klappe«, kommt es ebenso leise aber bestimmt zurück.
»Trotz vieler familiärer und gesellschaftlicher Verpflichtungen kümmerte sich Clotilde Bernheim liebevoll um ihre beiden Söhne«, fährt der Pastor fort.
»Was für ein Blödsinn.«
»Bist du ruhig.«
»Ein schwerer Schicksalsschlag traf sie vor einem halben Jahr. Plötzlich und unverhofft starb ihr geliebter Gatte, Gustav Bernheim. Mit ihm war sie annähernd fünfzig Jahre verheiratet. Kennengelernt hatten sie sich in der Firma seines Vaters, der das Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut hatte. Kurz nach der Heirat kam Sohn Bernd zur Welt.«
Der Pastor hält kurz inne und sieht ihn an; Bernd Bernheim nickt ihm zu. Dr. Pflüger fährt fort.
»Es sollte acht lange Jahre dauern, bis der zweite Sohn, Kai, auf die Welt kam.«
Wieder macht er eine Pause und blickt zu Kai, der neben seinem Bruder sitzt. Kai nickt höflich, obwohl er gar nicht so richtig weiß, warum. Zur Sicherheit macht er das traurigste Gesicht, zu dem er fähig ist. Es fällt ihm wirklich schwer, denn mit seinen Gedanken ist er bei seiner neuen scharfen Freundin, aber nicht bei seiner toten Mutter. Für sie hat er nur Verachtung übrig.

Im Kindle-Shop: Tod einer Millionärin: Haverbeck ermittelt (5. Fall)

Mehr über und von Achim Zygar auf seiner Website.

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